So, Deutschland wird nach Berechnungen des ifo-Instituts in 2019 erneut den weltgrößten (!) Leistungsbilanzüberschuss ausweisen, und zwar das vierte Jahr in Folge! Die Arbeitslosigkeit ist auf einem Tiefstand, ganz offenbar liebt die Welt „made in Germany“ – also: don’t worry, be happy.

Und sooooo schlecht schaut’s doch auch bei der Digitalisierung nicht aus: Im März diesen Jahres hat der Netzwerkausrüster CISCO eine Digital Readiness Studie herausgegeben (Download: Digital Readiness Index (CISCO)), wo Deutschland immerhin auf Platz 6 landet. Platz 6!

Aber wie passt dazu, dass der Digital-Berater Christoph Bornschein (TLGG) den Stand der Digitalisierung so kritisch sieht: „Drei Minus. (…) Vielleicht ist es eher eine Vier minus.“ (SPIEGEL Nr. 42 / 13.10.2018, Seite 75). Warum erklärte kurz vorher Herbert Diess, CEO des weltgrößten Automobilherstellers Volkswagen, in einem Handelsblatt-Interview: “Die Autohersteller werden das Wettrennen um die neue Mobilität nur mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent gewinnen.” Das klingt schon weniger optimistisch. Und der vielbeachtete britische Historiker Niall Ferguson resümierte kürzlich in einem Handelsblatt-Interview nüchtern: „Es gibt kaum große europäische Technologieunternehmen. Europa ist vor allem ein großer Markt für ausländische Technologiekonzerne.“

Also, wo steht Deutschland beim globalen Wettrennen in der Neuen Digitalen Ökonomie?

Ich bin Anfang September auf einem Netzwerktreffen der KI/Digitale Ökonomie-Szene in Berlin gewesen, zwei Keynote Speaker haben hier sehr pointiert dargestellt, wie Deutschland positioniert ist: Oliver Grün, Gründer der GRÜN Software AG und Präsident des Bundesverband IT-Mittelstand; Dr. Holger Schmidt, Lehrbeauftragter für Digitale Transformation an der TU Darmstadt, Kolumnist für das Handelsblatt und Buchautor.

Starten wir mit einer Binsenweisheit (die der Vollständigkeit halber erwähnt wird): Deutschland spielt in der Plattformökonomie im Bereich B2C – und das gilt für Europa ganz allgemein – keine Rolle. Mit einer sportlichen Metapher ausgedrückt: Nach der ersten Halbzeit liegen wir klar im Rückstand. Amazon, Facebook, Apple, Netflix, Alibaba, Tencent. Die Dominanz der US-amerikanischen und chinesischen Player ist bekannt.

Die Spielzeit ist natürlich noch nicht vorbei. Es gibt noch eine Vielzahl von Zukunfts-Märkten, wo das Spiel noch offen ist. Im Bereich B2B sind dies etwa IoT-Anwendungen, Deutschland kann potentiell auf die Betriebsdaten von über einer Milliarde hier gefertigter Anlagen, Maschinen und Geräte zurückgreifen und hieraus wertvolle Geschäftsmodelle formen. Ganz grundsätzlich gilt auch: Wir bewegen uns aktuell in der Phase der Schwachen KI (hier geht es vor allem um Mustererkennung), das Zeitalter der Starken KI wird aktuell in den Forschungslaboren vorbereiten (hier werden Fähigkeiten aus mehreren Disziplinen vereint).

Es liegt nahe anzunehmen, dass in dieser nächsten Welle neuer Geschäftsmodelle jene Unternehmen die Nase vorn haben werden, die heute am meisten in Forschung und Entwicklung (FuE) investieren sowie risikofreudig neue Geschäftsmodelle entwickeln. Hier bieten die Zahlen und Fakten der Referenten allerdings wenig Optimismus für den Standort Deutschland: Betrachtet man – bezogen auf die Schlüsseltechnologie Künstliche Intelligenz (KI) – die Investitionen der verschiedene Player, dann sieht man: Etwa 85% Prozent (!) der Investitionen in KI kommen aus den USA und China. Analog hierzu ist auch die Zahl der KI-StartUps in Deutschland überschaubar: 200 etwa, genauso viel wie in Frankreich, aber nur halb so viel wie in Großbritannien (400). Und von den 40 wertvollsten KI-Startups kommen – keine Überraschung – der überwiegende Teil aus den USA und China, kein einziges Unternehmen aus Deutschland findet sich in dieser Liste. Wenn deutsche Unternehmen investieren, dann vor allem defensiv, nämlich in Kostenreduktion; nicht (oder kaum) in neue Märkte und neue Geschäftsmodelle.

Wer die Diskussion um Künstliche Intelligenz verfolgt, der weiß außerdem: Erfolgreich ist hier nicht zwangsläufig derjenige, der besonders smarte KI-Modelle aufbauen kann. Viel entscheidender sind hier die Daten, und eben hier hat Deutschland leider auch einen klaren Rückstand. So liegt Deutschland etwa bei der Bereitstellung von Open Data staatlicher Daten ganz deutlich hinter den USA, es gibt also nur eine dünne Grundlage für das Training von KI-Algorithmen. Beispiel Autonomes Fahren (auch wenn hier zunächst Ernüchterung eingekehrt ist und unklar ist, wann Level 5 erreicht werden kann): Hier liegt die Google-Tochter Waymo in punkto absolvierte Fahrtkilometer mit weitem Abstand vorne, das heißt: Die verfügbaren Daten für das Training von KI-Algorithmen und für die Weiterentwicklung sind weit umfangreicher als jene Daten, auf deren Basis die deutschen Automobilhersteller entwickeln. Mag Level 5 noch in weiter Ferne sein, auch für Level 4 gilt: Daten, Daten, Daten.

Warum schneidet dann Deutschland so gut ab bei CISCO’s Digital Readiness Studie? Ein Blick auf die verschiedenen Faktoren, die in den Digital Readiness Index einfließen, löst den Widerspruch auf: Deutschland liegt etwa sehr gut bei Kriterien wie Lebensstandard oder Allgemeinen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Auch bei der technologischen Infrastruktur erreicht Deutschland ganz ordentliche Werte. Es handelt sich dabei um Faktoren, die Potential aufzeigen (Digital Readiness, noch nicht: Digital innovation) – nicht jedoch, ob eine Volkswirtschaft auch tatsächlich risikofreudig investiert, ob eine neue Gründergeneration den Ehrgeiz und das Durchhaltervermögen hat, zum neuen Steve Jobs oder Bill Gates zu werden. Und just bei diesen Indikatoren schneidet Deutschland schlecht ab, etwa bei Investitionen von Politik und Wirtschaft; auch bei den Bedingungen für StartUps erreicht Deutschland gerade mal Platz 29.

Kurzum: Deutschland ist im Rennen um die Digitalen Zukunftsmärkte klar hinter das Führungsfeld (USA, China) zurückgefallen. Es bedarf einer konzertierten Kraftanstrengung, um zum Führungsfeld aufzuschließen – nicht zuletzt auf europäischer Ebene. Ein Lichtblick ist hierbei die Rolle der durchsetzungsfähigen EU-Kommissarin Margrethe Vestager, die als exekutive Vizepräsidentin die politischen Aktivitäten rund um Digitalisierung koordiniert. Ziel gemäß Ursula von der Leyen: „die technologische Souveränität Europas zu erhalten“.

Author

Der Autor ist Manager in der Softwareindustrie mit internationaler Expertise: Prokurist bei einem der großen Beratungshäuser - Verantwortung für den Aufbau eines IT Entwicklungszentrums am Offshore-Standort Bangalore - Director M&A bei einem Softwarehaus in Berlin.