Status Quo und Zukunftsvision: Warum brauchen wir ein Betriebssystem fürs Auto?

Stand heute gibt es in einem Auto nicht etwa ein Betriebssystem, sondern Hunderte – ganz im Gegensatz zum PC, wo alle Programme das gleiche Betriebssystem nutzen: Von der Office-Anwendung bis zum Internetbrowser. Im Fahrzeug gibt es über 100 Steuerungseinheiten in Luxusfahrzeugen (Kleinwagen: 50), verantwortlich für Fensterheber, Motormanagement, Infotainment, Cockpitanzeigen, Reifendrucksensoren, Gurtstraffer, Sitzaktuatoren, Telematikdienste und derlei mehr. Das Fahrzeug von heute ist – aus Sicht eines Informatikers – Flickwerk: Viele Betriebssysteme, viele Programmiersprachen, viele Zulieferer.

Die digitalen Leistungskomponenten haben in der Regel einen unterschiedlichen Ursprung – und einen ganz eigenen Technology Stack. ADAS-Systeme (Advanced Driver Assistance Systems) etwa haben ihren Ursprung in der Luftfahrtindustrie und Fertigungsautomation. Die Angebote für das Infotainment der Zukunft wiederum kommen aus der Smartphone Industrie: Man denke an Android Automotive von Google (ursprünglich auf die Steuerung des Infotainment bzw. des Cockpits ausgelegt). Die zum Volvo-Konzern gehörige Marke Polestar (elektrische Fahrzeuge) ist bereits damit ausgestattet.

Dieser „Flickwerk“-Ansatz hat ermöglicht, dass das Fahrzeug in kurzer Zeit mit zahlreichen digitalen Services angereichert werden konnte. Der Preis: Eine wachsende Komplexität. Bereits heute umfasst ein Fahrzeug über 100 Millionen Programmierzeilen. Die Kommunikation zwischen unterschiedlichen Steuergeräten erfordert im Entwicklungsprozess einen hohen Aufwand und ist – über die Systemgrenzen hinweg – hinsichtlich Reaktionszeiten nicht optimal. Die Komplexität wird in Zukunft wachsen, etwa aufgrund neuer Komfortfeatures und nicht zuletzt aufgrund von Features des Autonomen Fahrens. Bereits heute erfordert das Feature „Aktives Fahrwerk“ in Luxusfahrzeugen eine Echtzeit-Kommunikation zwischen ADAS-Kameras, Sensoren im Antriebsstrang sowie Karosserieaktuatoren – Systemen, die bislang je eigene Softwarearchitekturen, Betriebssysteme und Middleware haben. Die Anzahl an Programmierzeilen wird sich in absehbarer Zeit verdoppeln, verdreifachen. Die Software von automatisiert fahrenden Fahrzeugen wird zwischen 300 und 500 Millionen Codezeilen umfassen.

Die Lösung: Ein einheitliches Betriebssystem für das Fahrzeug. Dies reduziert die Komplexität und schafft kurze Kommunikationswege zwischen Systemkomponenten. Dies bedeutet auch, dass die bisherigen über einhundert Steuergeräte und ihre Funktionen künftig schrittweise in wenige, zentralisierte Computer gebündelt werden – bis hin zum leistungsfähigen Zentralcomputer wie bei Tesla.

AGL: Automotive Grade Linux

Die Automobilindustrie ist sich dieser Herausforderung bewusst. Bereits 2012 wird das Projekt Automotive Grade Linux initiiert. Hersteller (u.a. VW, Mercedes-Benz, Toyota,Hyundai, Mazda, Honda, Mitsubishi, Subaru, Nissan, SAIC), Zulieferer, aber auch Softwareentwickler und Player der Halbleiterindustrie haben sich zusammengeschlossen, um eine gemeinsame Open Source Softwareplattform zu schaffen. Diese liefert die Basis zur Steuerung von Infotainment, Licht, Lenkung, Motor, soll in Zukunft auch Telematik oder ADAS umfassen bis hin zu Autonomen Fahren.

AGL ist hierbei als Basiscode zu verstehen, auf dem etwa OEM und andere Projektteilnehmer aufbauen können. Es ist nicht zu verstehen wie das Betriebssystem Android in der Smartphone-Industrie, das eine zentrale Herausforderung mit sich brachte: Smartphone-Hersteller haben keine (oder nur noch sehr eingeschränkte) Möglichkeiten, sich über Softwarefeatures zu differenzieren. AGL dagegen ist von Anfang an als Basiscode konzipiert, der noch wesentliche Entwicklungsarbeit bis zum praktischen Einsatz im Fahrzeug erfordert.

Betriebssystem für das Auto der Zukunft: Die Player aus der Automobilindustrie

Der japanische Autohersteller Toyota hat vor Jahren die Grundlagen für den Knowhow-Aufbau in punkto Softwarekompetenz gelegt. Nun gründete der OEM das Unternehmen Woven Planet Holdings, das die Softwareplattform für das Auto der Zukunft entwickeln soll. Name: Arene. Dieses Betriebssystem soll auch anderen Autobauern und Playern der Automobilindustrie angeboten werden.

Toyota ist sich der Komplexität dieses Entwicklungsziels wohl bewusst. Wie andere OEM auch (etwa Volkswagen – vgl. weiter unten) setzt der japanische Konzern darum auf flexible Allianzen mit anderen Autokonzernen.

Volkswagen setzt ebenfalls auf die Entwicklung eines eigenen Betriebssystems VW.OS. Hierfür wurde die Organisation CarSoftware.Org aus der Taufe gehoben. Hier arbeiten bislang 4 000 Entwickler, bis Ende 2021 sollen es 5 000 sein, 2025 bereits 10 000. Volkswagen will das VW.OS angesichts der Herkules-Aufgabe nicht im Alleingang entwickeln – sondern innerhalb eines Partnerschaftmodells. Die Partnersuche gestaltet sich allerdings nicht trivial, erste Verhandlungen mit Bosch und Continental verliefen ohne Einigung. Die Zulieferer steuern heute noch den wesentlichen Teil des Softwarecodes bei, über 90%. Für die Erstversion des Betriebssystems VW.OS 1.0 hat Continental umfangreiche Teile des Codes beigesteuert. Ein deutlich fortgeschritteneres Release (VW.OS 2.0) ist für das Jahr 2024 geplant – und soll bereits Features rund um das Autonome Fahren enthalten. Bislang liegt der Anteil selbst geschriebener Software von Volkswagen unter zehn Prozent – Ziel sind mittelfristig 60 Prozent. Übrigens baut Volkswagen zusammen mit Microsoft gegenwärtig eine automobile Datencloud auf.

Auch der deutsche Premiumhersteller BMW setzt auf die Entwicklung eines eigenen Betriebssystems. In der Einheit Digital Car wurden 4 000 Entwickler zusammengeführt. Das neue Betriebssystem BMW OS 8 wird erstmals im Luxus-Stromer BMW iX ab diesem Jahr eingesetzt – Over-the-Air-Updatefähigkeit inklusive. Diese neue Version des Betriebssystems wird auch 5G-fähig sein.

Daimler hat sich ebenfalls Autonomie in punkto Betriebssystem zum Ziel gesetzt. Aktuell gibt es das Infotainmentsystem MBUX (seit 2018 eingesetzt). Ab 2024 / 2025 gibt es dann das vollständig eigene Mercedes-Benz-Betriebssystem (MB-OS). Im Interview mit dem Handelsblatt nennt Ola Källenius das Betriebssystem das „Windows fürs Auto“ und unterstreicht seine Ambitionen. Auch Daimler sieht Allianzen als Teil der Strategie, auch punktuelle Kooperationen mit Technologiekonzernen wie Google oder Apple sind denkbar.

Bemerkenswert ist, dass Hersteller wie BMW und Daimler trotz Verkaufszahlen, die bei weniger als einem Viertel der Absatzzahlen von Volkswagen liegen die Entwicklung eines eigenen Betriebssystems verfolgen (VW: 11 Mio. Fahrzeuge, BWM: 2,5 Mio., Daimler: 2,3 Mio.). Denn es gilt: Softwareentwicklung ist komplex und teuer. Skaleneffekte realisiert man, wenn möglichst viele Menschen sie nutzen. Die Organisation Digital Car von BMW hat aktuell etwa genauso viele IT-Fachkräfte wie CarSoftware.Org von . Es wird klar: Die deutschen Hersteller wollen sich in keinem Fall zu reinen Blechbiegern bzw. Hardware-Lieferanten degradieren lassen.

Die Automobilzulieferer sehen sich als Entwicklungspartner auf Augenhöhe mit den OEMs. Bislang wurden Steuergeräte, Sensorik und Elektronik weitestgehend von Zulieferern bereitgestellt. Mehr als 90 Prozent der Software in Fahrzeugen wird gegenwärtig noch von Zulieferern wie Bosch, Continental oder ZF Friedrichshafen beigesteuert. Die Zulieferer haben nun ihre Aktivitäten neu strukturiert: Zum einen werden leistungsfähige zentrale Rechner entwickelt, die sukzessive die Vielzahl an Steuergeräten ablösen. Zum anderen wird die Softwarekompetenz in organisatorischen Einheiten zusammengeführt; am Ende soll ein „Software-Baukasten“ entstehen, aus dem Zulieferer die OEMs mit Bausteinen beliefern können.

Bei dem Automobilzulieferer #1 Bosch wurde der integrierte Geschäftsbereich „Cross-Domain Computing Solutions“ aus der Taufe gehoben. Etwa 17 000 Softwareingenieure und Elektronikspezialisten arbeiten hier am Baukasten für das Automobil der Zukunft. Hinzu kommen noch weitere 24 000 Entwickler rund um Steuergeräte, Sensorik, etc. außerhalb dieser Organisationseinheit. Diese Zahlen unterstreichen die Rolle der Zulieferer bei der Entwicklung des Autos der Zukunft sowie des Betriebssystems der Zukunft.

Betriebssystem für das Auto der Zukunft: Die Player aus dem Silicon Valley

Nicht alle OEM haben die Ambitionen, die Entwicklung eines eigenen Betriebssystems zu orchestrieren. Einige Autobauer setzen darum auf Allianzen mit IT-Konzernen, die in punkto Softwareentwicklung gegenüber den Autokonzernen eine höhere Produktivität aufweisen.

Südkoreas Autohersteller Hyundai und das Schwesterunternehmen Kia haben bereits mit Apple verhandelt. Volvo und General Motors setzen auf eine Android Automotive von Google. Wie bereits erwähnt: Polestar 2 (Tochter von Volvo) nutzt als erstes Serienfahrzeug der Welt die Google-Software bereits. (Die Software ist übrigens nicht zu verwechseln mit Android Auto, das lediglich Apps vom Smartphone auf das Display im Fahrzeug spiegelt.). Google entwickelte sein Android Automotive zusammen mit Intel.

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Kurzportrait Codelab

Der Autor ist zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Artikels Geschäftsführer bei Codelab (www.codelab.eu). Der Software-Engineering Dienstleister Codelab ist spezialisiert auf die Erbringung von Dienstleistungen und Lösungen für die Automobilindustrie, Embedded-Systems und das Internet der Dinge.

Codelabs Experten verfügen über umfangreiche Projekterfahrung im Bereich Fahrerassistenzsysteme, sowie in der Entwicklung und dem Testing von Plattformen und Algorithmen für autonom fahrende Fahrzeuge. Codelab übernimmt die Verantwortung für komplette Lösungen, vom Konzeptdesign bis zur Verifizierung und Systemintegration. 220 Spezialisten arbeiten aus den zwei aufstrebenden Städten Szczecin (Stettin) und Wroclaw (Breslau).

Codelab ist Teil der Beta Systems Group, die seit 35 Jahren komplexe IT-Systeme und anspruchsvolle IT-Prozesse in fast 40 Ländern anbietet. Die Beta Systems Software AG hat ihren Hauptsitz in Berlin und ist an der Deutschen Börse in Frankfurt gelistet.

Author

Der Autor ist Manager in der Softwareindustrie mit internationaler Expertise: Prokurist bei einem der großen Beratungshäuser - Verantwortung für den Aufbau eines IT Entwicklungszentrums am Offshore-Standort Bangalore - Director M&A bei einem Softwarehaus in Berlin.