Es ist eine der zentralen Fragen deutscher und europäischer Politik, auf die eine überzeugende Antwort immer drängender wird: Wie kann die deutsche bzw. europäische Wirtschaft eine komfortable Wettbewerbsposition im digitalen Zeitalter erreichen und damit den Wohlstand sichern? Auf die Dominanz der großen Digitalunternehmen aus den USA (Amazon, Apple, Microsoft, Facebook, Google) oder China (Alibaba, Tencent) hat die europäische Wirtschaft bislang keine Antwort gefunden, in der B2C-Plattformökonomie etwa spielt Deutschland keine nennenswerte Rolle. Es stimmt auch keineswegs optimistisch, wenn der Vertreter des weltgrößten Automobilherstellers Volkswagen, Herbert Diess, in einem Handelsblatt-Interview kürzlich bekennt: „Die Autohersteller werden das Wettrennen um die neue Mobilität nur mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent gewinnen.“

Die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Informationstechnologiebranche: Eine Bestandsaufnahme

Folgerichtig thematisiert das „Business Festival for Digital Movers and Makers“, die hub.berlin 2019 (10ter und 11ter April 2019), dieses Thema in zahlreichen Vorträgen, etwa: „Europe at a crossroads- Creating value in a digitized world” (Timotheus Höttges, CEO Deutsche Telekom), “How Can Germany Maintain its Top Position in the Digital Age?” (Frank Riemensperger, Vorsitzender Accenture Deutschland), “Digital or dead. How are Germany’s key industries digitizing?” oder “International Competitiveness in Times of Digitisation” (Peter Altmaier, Bundeswirtschaftsminister).

Der Eröffnungsvortrag von Timotheus Höttges, CEO Deutsche Telekom, setzte bereits klare Akzente: Europa habe 9 „Unicorn“ Start-Ups, die USA 93, China 123. Gleichzeitig starte Europa im Bereich Telekom (eine Schlüsselbranche für das Internet der Dinge / Internet of Things !) mit denkbar schlechten Voraussetzungen. In eben dieser Industrie seien Economies of Scale erheblich, und hier hätten etwa chinesischen Anbieter im Durchschnitt 400 Millionen Kunden, verglichen mit 1 Mio. für europäische Telekomanbieter. Anders ausgedrückt: Es gebe in Europa etwa 120 Telekomunternehmen, in China und den USA jeweils weniger als 10. Und die 5 größten Telekomanbieter Europas erreichten noch nicht einmal die Größe des größten US-Players. Es kommt hinzu, dass die Bandbreiten in Europa nicht harmonisiert sind. Der Vortrag von Herrn Höttges ist ein Warnruf. Sein Fazit: „Nobody is thinking big.“

Nur wenige Stunden später konstatiert der Vorsitzende der Geschäftsführung von Accenture Deutschland, Frank Riemensperger, die weltweite Renaissance von industriepolitischen Aktivitäten. Darauf sollten wir uns einstellen; der ordnungspolitische Puritanismus deutscher Lehrstühle kann hier keine adäquate Antwort sein. Frank Riemensperger hat just mit einer Co-Autorin das Buch „Titelverteidiger. Wie die deutsche Industrie ihre Spitzenposition auch im digitalen Zeitalter sichert“ herausgegeben. Hot off the press. Auch dieses Buch ist eine kritische Analyse des deutschen Entwicklungspfads in das digitale Zeitalter, auch dieses Buch ein Weckruf: “Die Informationstechnologiebranche unter den Top-50 Unternehmen ist auf dem Vormarsch. Von 2007 bis 2017 ist ihr Anteil überall gestiegen: in China sogar von 4 auf 28 Prozent, in den USA, dem Trendsetter der Datenindustrie, von 28 auf 36 Prozent. In Deutschland ist die ITK Branche von 9 auf 16 Prozent gewachsen.“ (S. 23).

Am zweiten Tag der Veranstaltung schließlich Peter Altmaier, der Bundeswirtschaftsminister, dessen „Nationale Industriestrategie“ von mehreren Seiten scharf angegriffen wurde. Peter Altmaier ist zweifelsohne ein Redner, der einer Veranstaltung zu Tagesbeginn Schwung verleiht: Kein Räuspern oder verlegenes Herumzupfen am Mikrofon: Kaum am Rednerpult angelangt, füllt seine sonore Stimme sofort den Raum; völlig freie Rede, die wichtigsten Zahlen parat, solides Englisch, hochkonzentriert, eine Rede wie aus einem Guss, hier spricht ein Mann mit einer Mission. In der Analyse unterscheidet er sich nicht von seinen Vorrednern: Europa zwischen den Großmächten der Digitalwirtschaft aus den USA und aus China. Er will den Transfer von Know-How aus der Wissenschaft in die Industrie fördern, beklagt den Mangel an Venture Capital Geldern. Und er fordert einen europäischen Player in Künstlicher Intelligenz (KI); es gäbe viele kleine Player, aber gegen Google, Amazon & Co könne nur ein großes Unternehmen wettbewerbsfähig sein. Aber Altmaier macht auch klar: Brüssel sei eine erst 80 Jahre alte Institution mit 28 Mitgliedstaaten und langsamen Prozessen. Eine Lösung könne nicht (nur) in Brüssel entwickelt werden. Die großen US-Player und chinesischen Unternehmen seien auch nicht von Regierungsstellen geschmiedet worden, sondern in der Privatwirtschaft. Es ist ein unüberhörbarer Appell an die Privatwirtschaft. Der Präsident der Bitkom, Achim Berg, kontert, er erwarte mindestens politischen Flankenschutz bei Themen wie Datenpolitik/-schutz.

Die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Informationstechnologiebranche: Brauchen wir einen Big Player?

Man kann zunächst einmal – losgelöst von der Frage nach der Erfordernis industriepolitischer Maßnahmen – die Frage stellen, ob überhaupt ein Big Player erforderlich ist. Reichen effiziente kollaborative Netzwerke von Unternehmen nicht bereits aus? Gibt es nicht bereits erfolgreiche Modelle der Kooperation über Unternehmensgrenzen hinweg: Reach Now etwa, dem Kooperationsprojekt von Daimler und BMW im Bereich Digital Mobility? Oder HERE Technologies: Hierbei handelt es sich einen zentralen Datenhub für Mobilitätsdaten, ein Unternehmen, das von BMW, Daimler, Audi zusammen gekauft wurde. Und die Allianz will unter der eigenentwickelten Plattfom www.syncier.com die Plattform für die (europäische) Versicherungswirtschaft werden, das „amazon“ der Versicherungswirtschaft. Und Carl Zeiss plant das Gleiche mit der Plattform www.apeer.com für die Branche des „Image Processing“.

Andererseits gilt aber auch: Eurowings/Lufthansa arbeiten alleine an einer Mobilitätsplattform, ebenso die Deutsche Bahn, SIXT geht seinen eigenen Weg, ebenso wie Volkswagen mit MOIA. Für das Segment Digitale Mobilität ist eine nationale Kooperationsinitiative nicht ansatzweise erkennbar, geschweige denn ein pan-europäisches Projekt. Und Frank Riemensperger konstatiert in dem Buch „Titelverteidiger“ nüchtern: (…) HERE ist bisher leider die große Ausnahme. Meist bewachen Unternehmen ihre Daten wie einen Schatz – den zu heben sie aber nicht groß genug sind. Die naheliegende Lösung, Daten über Unternehmensgrenzen zu „poolen“ und damit neue Einsichten und Lösungen zu finden, passt nicht immer zur deutschen „Ingenieur-DNA“. Zu groß ist die Sorge, Betriebsgeheimnisse preiszugeben oder ausspioniert zu werden.

Für wie wahrscheinlich halten Sie es, dass Otto und Zalando kooperieren, um amazon wenigstens auf europäischem Terrain die Stirn zu bieten? Zur Erinnerung: Etwa um das Jahr 2008 hatten Amazon und Otto vergleichbare Umsätze im Online-Handel in Deutschland (=Heimatmarkt von Otto). Etwa 10 Jahre später, in 2017, stellt sich die Situation in Deutschland wie folgt dar: Online-Umsatz von Amazon 8,8 Mrd. EUR, Otto 3,0 Mrd. EUR, Zalando 1,3 Mrd. EUR. Die Skaleneffekte (zugunsten von amazon) sind enorm.

Die Fragmentierung im europäischen Telekommarkt wurde bereits in der Einleitung quantitativ beschrieben. Sie kennen außerdem das Verhältnis der R&D Budgets von Amazon, Google und Microsoft zum KI Budget der Staaten Frankreich und Deutschland. Immerhin, Volkswagen will in den nächsten 5 Jahren etwa 44 Milliarden in die Elektromobilitätsforschung investieren.

Die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Informationstechnologiebranche: Sinn und Unsinn einer Industriepolitik

Die vorangehende Analyse macht deutlich, wieso sich die Idee eines European/National Champion so hartnäckig in der Diskussion hält. Ein Big Player kann den Nukleus eines digitalen Industrieclusters bilden (vergleichbar den automobilen Knowledge-Clustern in Süddeutschland, Wolfsburg oder Leipzig), es entstehen Talentschmieden, und – ebenso wie in der Automobilindustrie – entsteht rund um die globalen OEM-Player eine mittelständische Zuliefererindustrie, also ein wirtschaftliches Ökoystem. Frank Riemensperger benennt diese Plattform des European/National Champion als Digital infrastructure Layer. In dem Buch „Titelverteidiger“ formuliert Riemensperger: Für eine erfolgreiche Digitale Agenda „brauchen auch Deutschland und Europa Schlüsselunternehmen, die die erforderlichen digitalen Infrastrukturen aufbauen. Deutsche und europäische Champions, die mit Talent, Investitionen, Technologie und Zugang zu Daten gefördert werden.“ (S. 223).

Für einen solchen Player rechnen sich auch große Investitionen in KI oder Big Data, da sich diese Investition auf eine breite Kundenschicht umlegen lassen (man denke etwa an die etwa 2 Milliarden Nutzer von Facebook oder den AWS-Marktanteil von über 30 Prozent bei Public Clouds, die etwa KI-Services zur Verfügung stellen). Natürlich gilt nicht automatisch: Je größer, je besser. Der Fraunhofer-Präsident Reimund Neugebauer warnt davor, Größe überzubewerten: „Wettbewerbsfähigkeit kann durch Größe gestärkt werden. Die gesündere Wettbewerbsfähigkeit ist die durch Originalität von Produkten, durch höchste Produktivität und Kosteneffizienz auch in Hochlohnländern.“ Ja, richtig. Es geht hier aber nicht um ein Entweder-Oder. Es geht um ein Sowohl-Als-Auch. Die Marktanalyse von Timotheus Höttges macht deutlich, dass es Märkte gibt, in denen Größe eben doch entscheidend ist. Das können wir aus ordnungspolitischem Puritanismus nicht einfach ignorieren.

Nehmen wir für einen Augenblick an, ein solcher European Champion könnte die Wettbewerbsfähigkeit Europas tatsächlich entscheidend verbessern (mehr noch als kollaborative Netzwerke von Unternehmen einer Branche – sofern diese zustande kommen). Es verbleibt die noch entscheidendere Frage: Wo soll dieser European Champion eigentlich herkommen? Weder der französische Präsident, noch die Bundeskanzlerin könnten ein solches Unternehmen per Dekret aus der Taufe heben. In der europäischen Unternehmerlandschaft wiederum lässt sich auch mit viel kombinatorischem Geschick kein (zwangs)fusioniertes Unternehmen denken, das etwa dem Suchmaschinenanbieter Google oder den führenden US-amerikanischen Public-Cloud-Anbietern AWS, Azure, Google Paroli bieten könnte. So einfach ist es also nicht.

Es bleibt dennoch richtig, dass diese Vision Leitstern einer europäischen Wirtschaftspolitik sein sollte. Europäische Politik bzw. Politik in Europa (also: auch auf Ebene der Nationalstaaten) muss grundsätzlich daran orientiert sein, die Grundlagen für einen solchen Europäischen Champion in der Digitalwirtschaft zu schaffen. Hier gibt es zahlreiche Stellschrauben. Es gilt zum ersten, das Klima für Allianzen und Mergers zu verbessern; die Untersagung der Fusion von Siemens Mobility und Alstom war vermutlich – ich formuliere das bewusst vorsichtig – kontraproduktiv. Da hilft es auch nicht, wenn der oberste Chef der deutschen Kartellbehörden nach der Untersagung erklärt, er würde die Bewertung nun anders vornehmen.

Es geht, zweitens, um die Überwindung nationaler Egoismen. Brauchen wir wirklich diese Vielfalt an Fluglinien, diese Vielfalt an Telekom-Unternehmen? Und, drittens, für viele Branchen gibt es noch keineswegs den „Single Market“, im Sinne eines grenzüberschreitenden harmonisierten Marktes. Jede nationale Grenze markiert in der Regel neue/abweichende/andere Regulierungen: Wenn ein Online-Händler von Deutschland nach Tschechien expandiert, reicht mitnichten die Übersetzung der Webseite aus: Es beginnt ein neuer Kulturraum (das lässt sich nicht ändern), der Gesetzesrahmen weicht ab, es beginnt ein bürokratischer Hürdenlauf. Timotheus Höttges hat auf die fehlende Harmonisierung der Bandbreiten in Europa hingewiesen. Viertens, man muss sicherlich auch nochmals über die Balance zwischen Datenschutz und regulatorischen Hürden für Unternehmen nachdenken. Europa sollte hier strategischer denken: Datenschutz ist und bleibt richtig. Man muss aber die Frage stellen, wie relevant die Stimme Europas in 10 Jahren noch sein kann in punkto ethischer Normen, wenn Europa den digitalen Anschluss verliert. Sechstens, Siebtens, Achtens gibt es weitere Handlungsbedarfe, die bekannt sind: Digitale Infrastruktur, Bildungsinvestitionen, steuerliche Förderung von Venture Capital Investitionen und Vieles mehr.

Abschließend noch einige Worte zu Peter Altmaiers „Nationaler Industriestrategie“. Ja, diese ist in vielen Punkt noch nicht ausgegoren: Etwa die merkwürdig anmutende Zielsetzung, die Industrieproduktion wieder anzuheben, oder der Quasi-Bestandsschutz einzelner Unternehmen. In dieser Form kann das nicht überzeugend sein für den Mittelstand, der Angst hat, dass die Großen größer gemacht werden – zu Ungunsten des Mittelstandes, der ja 45 Prozent der gesamten Wertschöpfung ausmacht und 60 der Erwerbstätigen beschäftigt. Ganz sicher wollen wir außerdem keine Industriepolitik nach dem Muster von Holzmann (Rettung durch Schröder, dann Konkurs); auch die staatlich orchestrierten Fusionsgespräche zwischen Deutsche Bank und Commerzbank kommen unbeholfen daher. Dennoch: Die Analyse bleibt richtig. Ebenso die Wiederbelebung der Idee von europäischer Industriepolitik als Antwort auf die Industriepolitik der USA oder China. Für diese Diskussion darf man Altmaier dankbar sein.

Die digitale Revolution ist ein unglaublich faszinierendes (und in Teilen: risikoreiches) Projekt unserer Generation. Wir sollten sicherstellen, dass Europa hier mitspielt – jetzt und in Zukunft.

„Jede hinreichend fortschrittliche Technologie ist von Magie nicht zu unterscheiden.“
Arthur C. Clarke

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Author

Der Autor ist Manager in der Softwareindustrie mit internationaler Expertise: Prokurist bei einem der großen Beratungshäuser - Verantwortung für den Aufbau eines IT Entwicklungszentrums am Offshore-Standort Bangalore - Director M&A bei einem Softwarehaus in Berlin.