Es ist unstrittig: Europa hat gegenwärtig den Anschluss in der Digitalindustrie gegenüber den zwei Digitalen Supermächten USA und China verloren. Die Frage liegt nahe: „Wie schafft die Europäische Digitalindustrie den Anschluss an die Weltspitze?“ – Die Antwort ist keineswegs trivial. Und ich möchte eingangs mit einer Bemerkung des Gründungsdirektors der Agentur für Sprunginnovation, Raphael Laguna de la Vera, hinweisen: Amazon und Microsoft kosteten an der Börse mehr als alle 763 börsennotierten deutschen Unternehmen zusammen.

Sollte Europa also darauf hinarbeiten, eine Handvoll Digitaler europäischer Champions heranzuzüchten? Oder eher auf eine Digitalindustrie von der „Mittelstands“-Struktur hinarbeiten, wie es die Deutschland AG prägt? In dem Zusammenhang möchte ich auch auf eine etwas verstörende Frage des Autors Yuval Harari in seinem Bestseller Homo Deus zu sprechen kommen: Harari sinniert, ob die heraufdräuende Algorithmus-basierte Wirtschaft das Ende des Massenwohlstands einläuten könnte, da das neue Paradigma der Produktion keine Massen mehr benötigt; gemäß der Logik der zukünftigen Digitalen Ökonomie wäre es vielleicht vorteilhafter für den Wohlstand eines Landes, einige wenige hochleistungsfähige Algorithmen zu entwickeln statt Tausende von Top Akademikern und Fachkräften hervorzubringen – mit entsprechenden Konsequenzen für die Ausrichtung der (Elite)Bildungspolitik.

Schauen wir uns das einmal an.

Bestandsaufnahme in der Digitalindustrie: Die Ausgangssituation

Beginnen wir mit ein paar Feststellungen – und zwar für Deutschland als größter Volkswirtschaft in Europa (eine Analyse für den gesamten europäischen Wirtschaftsraum wäre hier etwas zu weitschweifig): Erstens, der Deutschland AG gehen die Gründer aus. Das Handelsblatt hat in einem Artikel im vergangenen Jahr eine kritische Bestandsaufnahme gemacht ( Unternehmer gesucht. Kein Wille, keine Vision, Kein Wachstum. Was die Gründerkultur in Deutschland vernichtet):

Handelsblatt Graphik: Deutschland gehen die Gründer ausHandelsblatt Graphik: Deutschland gehen die Gründer aus

Zweitens, in vielen Ländern und Industrien lässt sich eine Konsolidierung von unternehmerischer Aktivität und/oder Gewinnvereinnahmung beobachten. Ein jüngst erschienener Artikel im Economist (Ausgabe May 23rd-29th 2020) rechnet vor, dass in den USA alleine 20 Unternehmen (sic!) ein Viertel der gesamten Unternehmensgewinne des Landes auf sich vereinen. Für Indien ermittelte das Unternehmen Marcellus Investment Managers sogar, dass fast 70% der Gesamteinnahmen der Indischen Wirtschaft auf wenige Unternehmen entfielen (gegenüber 14% vor drei Jahrzehnten). Dabei verweise nochmals auf die Zahl zu Beginn dieses Artikels: i>Amazon und Microsoft sind an der Börse mehr wert als alle 763 börsennotierten deutschen Unternehmen zusammen. Rechnet man die Marktkapitalisierung der wichtigsten Player der Digitalindustrie aus Dax, Max, und SDax zusammen, kommt man (Ende Mai 2020) auf knapp 300 Mrd. Euro (darunter: SAP, Software AG, Deutsche Telekom, Infineon, Zalando, TeamViewer, Nemetschek, United Internet, Siltronic, Scout24, Rocket Internet, New Work / XING). Zum Vergleich: Microsoft; 1,25 Billionen. Apple: 1,25 Billionen. Amazon: 1,1 Billionen.

Digitalindustrie: Der Case für Großunternehmen

In einigen Branchen bildet sich bekanntermaßen ein Oligopol heraus, etwa aufgrund kapitalintensiver Produktion oder hoher F&E-Investitionen. In der Automobilbranche etwa lässt sich eine Konsolidierung beobachten, bei Hochgeschwindigkeitszügen gibt es nur wenige Player (CRRC, Alstom, ein japanisches Konsortium, Siemens spielt global gesehen kaum eine Rolle). In der Flugzeugindustrie gibt es de facto ein Duopol.

Bei Betriebssystemen stellt sich die Situation vergleichbar dar: Microsoft dominiert unangefochten im PC-Bereich; im Server-Umfeld spielt Linux (und Linux-Derivate) eine Rolle, Microsoft als Betriebssystem bleibt der mit Abstand führende Betreiber. Bei Betriebssystemen für Mobilgeräte haben wir de facto auch ein Duopol (iOS, Android), hier spielt Microsoft eine marginale Rolle. Der Big Player aus Redmond hat diesen Trend schlicht verschlafen, und es gelingt Microsoft nicht mehr, den Vorsprung von iOS und Android einzuholen. Dies vermittelt im Übrigen eine Vorstellung von der Herausforderung, mit der Europa in der Digitalindustrie konfrontiert ist.

Man muss sich bewusst machen, dass die Digitalindustrie einer eigenen Logik folgt: Hier spielen der Netzwerkeffekt (vgl. Facebook oder AirBnB) eine entscheidende Rolle, ebenso wie der Null-Grenzkosteneffekt bzw. eine geradezu fantastische Skalierungsfähigkeit, vergleiche dazu eine Übersicht der Charakteristiken Digitaler Geschäftsmodelle. (zur Profitabilität: So profitabel sind Digitale Geschäftsmodelle). Und auch hier gibt es feine Unterschiede: Eine SAP muss ihr ERP-System an Dutzende Industrien anpassen – dagegen ist ein Betriebssystem ein One-size-fits-all-Produkt. Und auch die Basistechnologie „Künstliche Intelligenz“ ist ein solches One-size-fits-all-Produkt – und gerade bei diesen Digitalen Produkten haben Großunternehmen (mit großen F&E-Budgets) einen enormen Vorteil.

Im Maschinenbau gibt es kein solches One-size-fits-all-Prinzip: Die Maschine für die Holzverarbeitung hat nur wenig gemein mit einer Verpackungsmaschine, eine Produktionsstraße für Metall-Gussteile funktioniert anders als eine Produktionsstraße für Kunststoff-Gussteile oder Blechstanzteile. Für eine solche Industrie ist die mittelständische Industrie wie geschaffen, aber – so zumindest meine Meinung – in der Digitalindustrie gilt ein anderes Paradigma, das die europäische Wirtschafts-, Binnenmarkt-, Wettbewerbspolitik berücksichtigen muss.

Fazit

Die inhärente Logik der Digitalindustrie erfordert, in ausgewählten Bereichen European Champions zu fördern. Die Herausforderungen sind groß, der europäische Binnenmarkt ist in vielerlei Hinsicht regulatorisch noch zersplittert und kleinteilig (von der Sprachenvielfalt einmal abgesehen, aber das ist technisch weniger herausfordernd). Die Wettbewerbspolitik wird dieses Paradigma der Digitalindustrie ebenfalls berücksichtigen müssen; und wenn ich mir eine Meinung erlauben darf, die zwar nicht die Digitalindustrie betrifft, aber dennoch den Handlungsbedarf deutlich macht: Bei Hochgeschwindigkeitszügen hat der chinesische Hersteller CRRC einen Weltmarktanteil von etwa 70 Prozent; es gibt weiterhin japanische Konsortien, die auf etwa 9 Prozent Weltmarktanteil kommen, und schließlich Alstom (8 %) und Siemens (3 %). (Zum Nachlesen: Wikipedia). Die Entscheidung der EU-Wettbewerbskommissarin Vestager gegen den Merger von Alstom und Siemens war äußerst unglücklich.

Woher soll ein solcher Big Player der Europäischen Digitalindustrie kommen? Es gibt immerhin vereinzelte Kooperationen in Europa, so hat die Deutsche Telekom mit der französischen Orange S.A. (vormals: France Télécom) einen Sprachassistenten entwickelt (Produktname in Deutschland: MagentaRabe der Bertelsmann Gruppe unlängst: „Ich kann mir da gut eine gemeinsame europäische Plattform vorstellen. Auch bei Video-on-Demand sind wir offen für Partnern. Wenn wir weiterhin nur versuchen, unsere Geschäfte allein zu betreiben, und uns von der traditionellen Konkurrenz abgrenzen, schaufeln wir unser eigenes Grab.“ (SPIEGEL, Ausgabe Nr. 12 / 16.03.2019):

Ich wünsche mir eine Handvoll visionärer Unternehmer europäischen Formats, die wirklich groß denken und denen es gelingt, für ein unternehmerisches Projekt Europäischen Zuschnitts Politik und Investoren gleichermaßen zu überzeugen. Man mag ja von Elon Musk halten was man will, exzentrisch, mit einer Portion Hybris (seine Idee einer Bevölkerung des Mars kann ich bis heute nicht nachvollziehen), aber visionär: Jüngst ist ihm eine Wiederbelebung der US-amerikanischen bemannten Raumfahrt geglückt. Und er hat Durchhaltevermögen: SpaceX (vor 18 Jahren gegründet) hatte zu Beginn nicht wenige Rückschläge, auch bei Tesla ist er durch die „Produktionshölle“ gegangen. Chapeau!

Interessant in dem Zusammenhang: Der Internet-Unternehmer Oliver Samwer erklärte vor einiger Zeit: “Tesla hätte in Deutschland nie eine Finanzierung bekommen“

“Die meisten Menschen sind komplett überfordert mit der Komplexität, in der wir leben. Gehen Sie nicht davon aus, dass alles gut wird. Mischen Sie sich ein, bringen Sie sich ein als Unternehmer.“, Timotheus Höttges, CEO, Deutsche Telekom AG, in der Eröffnungsrede der Digital X am 29.10.2019

Author

Der Autor ist Manager in der Softwareindustrie mit internationaler Expertise: Prokurist bei einem der großen Beratungshäuser - Verantwortung für den Aufbau eines IT Entwicklungszentrums am Offshore-Standort Bangalore - Director M&A bei einem Softwarehaus in Berlin.