„Der Geist aus der Maschine. Eine superschnelle Menschheitsgeschichte des digitalen Universums“, von Andrian Kreye, HEYNE Verlag, Erscheinungsjahr 2024, 360 Seiten, 24 Euro (gebundene Ausgabe)
Wer im Jahr 2024 eine „Menschheitsgeschichte des digitalen Universums“ als Buch vorlegt mit einem ca. 100-seitigen Rückblick auf die Anfänge des Internet und die Anfänge des Silicon Valley Kapitalismus, der geht ein hohes Risiko ein, Allbekanntes wiederzukäuen. Nicht jedoch Andrian Kreye. Das Buch hat mich wirklich verblüfft und außerordentlich gut unterhalten. Ich habe jede Zeile genossen, auch wenn ich regelmäßig Sachbücher rund um Digitalisierung auf meiner Leseliste habe.
Was macht dieses Buch so besonders?
Das Buch ist nicht das Ergebnis einer Faktenrecherche im Elfenbeinturm; vielmehr ist es ein lebhafter Erlebnisbericht, den Andrian Kreye aus seinem direkten Austausch mit den Protagonisten dieser digitalen Revolution entwickelt. Und eben dieser Zugang und das Netzwerk in die Tech- und Wissenschaftsszene ermöglicht dem Autor den erfrischenden Blick auf das Geschehen. Andrian Kreye nämlich war es unter anderem gelungen, in die Welt der Salons und „Master Classes“ von John Brockman Zugang zu finden, wo sich die bedeutenden Intellektuellen, Wissenschaftler und Unternehmer ihrer Zeit tummelten: “Brockman hatte eine ganze Palette solcher Salons, die er veranstaltete. Da gab es die Edge Dinner, Abendrunden manchmal bei ihm zu Hause auf der Upper Westside direkt am Central Park. (…) Später gab es die legendären ‚Billionaires‘ Dinners‘ am Rande der TED Conference in Monterey, Los Angeles und Vancouver (…).“ (S. 84f).
Zu den Gesprächspartnern des Autors (vgl. Quellenverzeichnis auf Seit 360 des Buches) zählen etwa Jeff Bezos, Julian Assange, Nick Bostrom, Carl Benedikt Frey, Bill Gates, Frances Haugen, Daniel Kahnemann, Jaron Lanier, Tomothy Leary, Marvin Minsky, Elon Musk, Nicholas Negroponte, Larry Page, Steven Pinker, Jeremy Rifkin, Jürgen Schmidhuber, Mustafa Suleyman und Weitere mehr.
Das Buch ist mit viel Witz geschrieben, mit Lust an originellen Formulierungen, geradezu immersiv. Kurz: Ein Lesegenuss.
Einige Highlights aus dem Rückblick auf die Herausbildung der Digitalen Ökonomie
Der Rückblick von Andrian Kreye taucht in die Wissenschaftsszene ein, wo die Grundlagen der digitalen Revolution gelegt werden, ebenso in die gesellschaftspolitischen Visionen, die quasi eine „Willkommenskultur“ etwa für das Internet schufen. Und das Buch wirft auch einen Blick auf die politischen Weichenstellungen, die der Herausbildung des Plattform-Kapitalismus den Weg bereiteten:
“(…) am 08. Februar 1996 unterzeichnete Bill Clinton ein monumentales Gesetzespaket mit dem Namen Telecommunications Act of 1996. Es war die erste Reform der Telekommunikationsgesetze seit 1934. (…) Ein einzelner Absatz, tief in diesem Gesetzesteil versteckt, besiegelte (…) den Aufstieg des Internets. Der Journalist Jeff Kosseff nannte sie Jahre später mal die ‚26 Wörter, die das Internet schufen‘. Die 26 Wörter lauteten: ‚No provider or user of an interactive computer service shall be trated as the publisher or speaker of any information provided by another information content provider.’ (…) Damit hatte das Gesetz die digitalen Konzerne von jeglicher Verantwortung für Inhalte enthoben.“(S. 66ff).
Gerade aus der Perspektive der deutschen Digitalwirtschaft heraus ist auch das Kapitel hochspannend, in dem Andrian Kreye der Frage nachgeht, wie Deutschland „seine Rolle als Nummer zwei der digitalen Welt schon so früh verspielte“. Der Autor teilt hier die Beobachtungen des damaligen zuständigen Ministers, des KI-Pioniers Schmidhubers und der Schlüsseldifigur Werner Zorn aus dem Wissenschaftsbetrieb.
Seit 1984 waren neben den USA nur noch Israel und Deutschland im amerikanischen Internet. Ein entscheidender Startvorteil. “Am 02. August 1984 erhielt Deutschland (bzw. Werner Zorn) die Einladung zum Computer Science Network SCNET, das seit 1981 erstmals Rechner außerhalb des Arpanets des Militärs ins Internet geholt hatte, erst einmal vor allem Universitäten.“
Und dann? Es folgte ein Glaubenskrieg, ein Krieg der Standards über die Grundlage für das Netzwerk der Zukunft. Denn neben dem TCP-IP-basierten amerikanischen Internet gab es auch die ISO-OSI Methode (der International Organization for Standardization ISO). In Folge „bekämpfte“ Deutschland über 10 Jahre regelrecht das Internet. Kurz, die BRD hatte sich also für die falsche Seite entschieden … und den Irrtum erst spät realisiert. Das Ergebnis: “Zehn Jahre hatte Deutschland verloren. In der digitalen Revolution sind das Jahrhunderte. Und so wurde aus der Vorhut der digitalen Technologie Deutschland eine der vielen digitalen Kolonien, die wie Satelliten um das Silicon Valley kreisen.“ (S. 139)
Ein trauriges Kapital der digitalen Menschheitsgeschichte. Zum dem Thema kann ich auch das Buch Buchempfehlung: „Zukunft verpasst?“ von Cornelius Boersch, Thomas Middelhoff empfehlen.
Und zur Geschichte des Digitalen gehört auch eine Betrachtung der Produktivitätsgewinne. Bekanntermaßen tun sich Wirtschaftswissenschaftler schwer, die „digitale Revolution“ in den Produktivitätsstatistiken der letzten Jahre nachzuweisen. Dazu liefert in Andrian Kreye‘s Buch der Wirtschaftswissenschaftler Robert Gordon von der Northwestern University ein nachvollziehbare Erklärung: “(…) Der große Produktivitätsschub durch Computer habe wiederum zunächst in den 1970er- und 19780er Jahren stattgefunden, als unzählige Routinearbeiten in Büros und Verwaltungen automatisiert wurden. Der sei nie so massiv gewesen wie der durch die Innovationen der ersten Phase. Der Höhepunkt seien die Neunzigerjahre gewesen, als sich Computer und Internet mit Plattformen wie Amazon, Google und Wikipedia zu enormen Motoren der Arbeitsleistung verbunden hätten. (….) Seit dem Jahr 2000 konzentrieren sich die Erfindungen auf Unterhaltungs- und Kommunikationsgeräte, die kleiner, intelligenter und leistungsfähiger sind, aber die Arbeitsproduktivität oder den Lebensstandard nicht so grundlegend verändern wie elektrisches Licht, Autos oder Sanitäranlagen.“ (S. 220 f)
Das Plädoyer von Andrian Kreye
Andrian Kreye sieht in der digitalen Revolution klar ein großes Potential für Wirtschaft, Gesellschaft und Demokratie. Wenn man es richtig macht. Er stellt aber auch fest, dass einige Entwicklungen hochproblematisch sind. Das lässt sich bereits an zahlreichen Kapiteln erkennen:
An Warnung und Analysen mangelt es dabei durchaus nicht: “(…) ein Wissenschaftler wir Aral vom Massachusetts Institute of Technology (…). Seine Studie kam zu einem vernichtenden Urteil, das sein Verlag etwas vage zum Slogan auf dem Cover seines Buches ‚The Hype Machine‘ umformuliert: Wie soziale Medien unsere Wahlen, unsere Wirtschaft und unsere Gesundheit stören – und wie wir uns anpassen müssen. Auf mehr als dreihundert Seiten analysiert Aral die innere Mechanik der sozialen Netzwerke. Da stand auch die verblüffende Zahl, dass sich jede Lüge sechsmal schneller verbreitet und tausendmal mehr Menschen erreicht als jede Wahrheit. Aber das erinnert ein wenig an China, das ein bisschen Dissidenz zulässt, solange sie sich nur in akademischen Zirkeln und ihren Publikationen manifestiert. Es kriegt halt niemand mit. Auch ‚The Hype Machine‘ hinterließ im öffentlichen Diskurs kaum Spuren, obwohl es eines der besten Bücher zum Thema Erosion der demokratischen Prozesse durch soziale Medien ist. Ein dickes Buch mit Diagrammen, Zahlen und komplexen Analysen findet nur ein ausgewähltes Publikum, das in der Regel schon wohlinformiert und kritisch im Umfang mit digitalen Medien ist. Der Wert eines solchen Buches für die Wissenschaft mag gewaltig sein, verändern wird es wenig.“ (S. 236 f).
Kreye formuliert darum ein klares Plädoyer am Ende seines Buches:
Es sei eminent wichtig, dass “(…) die Zivilgesellschaft (…) die Kontrolle über die einzelnen Forschungsgebiete und Technologien behält. Um die Kräfte, die die Menschheit gerade entfesselt, zu bändigen und in die Dienste des Gemeinwohls zu stellen. Genau wegen solcher Fortschritte war das KI-Gesetzt [=AI ACT] der EU als erste Maßnahme so wichtig. Wie soll die Gesellschaft die Probleme mit KI der nahen und fernen Zukunft meistern, wenn sie die der Gegenwart noch nicht beherrscht? Auf Wissenschaft und Unternehmen ist da kein Verlass. Die funktionieren nach dem Prinzip des BYC. Because you can. (…) Deshalb war es so wichtig, dass im Dezember 2023 die Ära der Hybris in Brüssel erst einmal zu Ende ging. Ein historischer Sieg. Nicht der Menschen über die Maschinen, sondern der Bürger über die Konzerne.“ (S. 358)
“Dabei ist es gar nicht so schwer, das digitale Universum in den Dienst des Gemeinwohls zu zwingen. (…) Dann kann künstliche Intelligenz Wissenschaft, Gesellschaft und vielleicht sogar die Demokratie Schritte weiterbringen, statt sie zurückzuwerfen. Es mag eine Utopie sein, aber die stand immer schon am Anfang einer jeden neuen Phase der Digitalisierung. Es gibt keinen Grund, den Glauben daran zu verlieren.“ (S. 358 f)