Vorweg: Das Buch ist unbedingt lesenswert, es bereichert die Debatte über unsere gesellschaftliche Agenda im digitalen Zeitalter, die zeitweilige Top-Platzierung in der Bestsellerliste des SPIEGEL ist absolut gerechtfertigt. Der Schreibstil ist flott und Richard David Precht versucht an keiner Stelle, mit einem trocken-wissenschaftlichen Duktus eine omnisziente Instanz vorzugaukeln, die er ja gar nicht sein kann. Er schreibt also Philosoph, und als solcher leistet er einen sehr wertvollen Beitrag zu dieser Debatte um unsere digitale Zukunft.
„Jäger, Hirten, Kritiker. Eine Utopie für die digitale Gesellschaft“ (Goldmann Verlag, 12 EUR als Taschenbuch, Erscheinungsjahr 2018, 270 Seiten) des Autors Richard David Precht..
Von Anfang an macht er dabei aus seiner Kapitalismus-kritischen Haltung keinen Hehl. Über die Gründer und Vorstände der Silicon Valley Unternehmen schreibt Precht, sie seien „Abhängige, beseelt von der Gier nach noch mehr Geld, angefeuert durch ihre an nichts anderem interessierten Aktionäre. Und bislang forcieren sie mit jedem Glücksversprechen die rücksichtslose Ausbeutung ihrer User und Kunden, deren Profile sie meistbietend verkaufen.“ (S. 112f). Precht bezieht eine klare Position, die er im Übrigen begründet: Der Leser findet hier das bekannte Zitat von Dr. Eric Schmidt („Wir wissen, wo du bist. Wir wissen, wo du warst. Wir wissen mehr oder weniger, worüber du nachdenkst“) oder auch ein Zitat des Silicon-Valley-Großinvestors Peter Thiel: „Das Schicksal unserer Welt liegt vielleicht in den Händen eines einzelnen Menschen, der jene Freiheits-Maschine erschafft oder verbreitet, die wir brauchen, um die Welt sicher für den Kapitalismus zu machen.“ (S. 109). Precht findet das nicht gut, und das wird in dem Buch auch deutlich.
In einer Buchkritik lese ich: „Interessante Gedanken, einfach zu verstehen – keine neuen Visionen.“ Keine neuen Visionen? – Es fehlt unserer Zeit sicherlich nicht an Ideen, vielmehr sind wir geradezu überfordert von der Ideen- und Informationsflut, wir leiden an einer Orientierungslosigkeit. Precht macht es sich darum zur Aufgabe, Entscheidungsmaßstäbe zur Bewertung dieser Ideen und Zukunftsentwürfe systematisch herzuleiten und zu diskutieren, und zwar unter Rückgriff auf die Ideengeschichte, mit der er dem Publikum als Bestsellerautor ja bestens bekannt ist. Wo uns etwa im Zuge der Digitalisierung die Arbeit auszugehen droht (was noch zu diskutieren ist), diskutiert Precht die Ideengeschichte zum Begriff der Arbeit: Marx, Lafargue, Oscar Wilde, Richard Sennett und mehr. Wo uns Künstliche Intelligenz Urteile über die Welt abnimmt, lässt Precht den Philosophen Kant Stellung nehmen zur Frage „Wie ist der Zusammenhang zwischen Urteil und Freiheit?“ Auf dem Weg durch das Buch begegnen dem Leser folglich zahlreichen Philosophen und Geistesgrößen, von John Locke, William Petty bis hin zu Adorno. Es ist nämlich auch von unschätzbarem Wert, in der Debatte um die Ausgestaltung der digitalen Ära zu verstehen, wo jene Prinzipien ihre Wurzeln haben, mit denen heute so selbstverständlich argumentiert wird: Von „Leistungsgesellschaft“ angefangen bis hin zur Idee von „Fortschritt“.
Ganz zentral ist der Hinweis des Autors: Es gibt keinen Technikdeterminismus, die Zukunft ist nicht durch technischen Fortschritt vorgezeichnet, sondern politisch und gesellschaftlich gestaltbar. Das Buch erinnert immer wieder daran, dass es gilt, Entscheidungen zu treffen: „Wo ist der Einsatz digitaler Technik eine Lebensbereicherung, und wo führt er in die Ödnis?“ (S. 177). Precht ist also keineswegs ein sozialromantischer Nostalgiker, er arbeitet klar die Vorteile zahlreicher technischer Entwicklungen heraus (er entwickelt sogar die Utopie einer neuartigen Arbeitsgesellschaft mithilfe eines „bedingungslosen Grundeinkommens“, welche ich persönlich zwar nicht teile, aber seine Argumentation ist dennoch bereichernd). Aber Precht fordert zu Recht, dass die Entscheidung über die Nutzung (oder eben auch nicht) von Technologie der demokratischen Logik folgen solle. Zur Entwicklung der Städte in Smart Cities formuliert er etwa: „Auch hier sollte also der Mensch im Mittelpunkt stehen und nicht die Technik. Dass eine Stadt oder ein Stadtteil alles tut, um Energie zu sparen, dürfte schnell mehrheitsfähig sein. Dass jeder Bürger im öffentlichen Raum jederzeit überwacht wird, wahrscheinlich nicht.“ (S. 214f)
Unsere digitale Zukunft: Dystopie vs Utopie
Der Autor Precht legt seinem Buch eine einfache wie naheliegende Grundstruktur zugrunde: Die Dystopie einer digitalen Zukunft vs einer Utopie für eine digitale Zukunft. Nicht alle Themen und Überlegungen fügen sich dabei strikt in diese Ordnung, aber die Struktur wird immer wieder erkennbar. Precht leitet im Übrigen diese dialektische Gegenüberstellung mit einem (berechtigten) Seitenhieb gegen die Politik ein: „Weil nirgendwo auf die Zukunft hin geplant und nach Überzeugungen gestaltet wird, erwartet die Politik die Themen wie das Wetter – die Diktatur der Gegenwart über die übrige Zeit; alles bewegt, nichts verändert sich. Die Utopie als konstruktive Kraft der Politik aber bleibt verschwunden.“ (S. 52)
Seine Dystopie („Der Palo-Alto-Kapitalismus regiert die Welt“), angesiedelt im Jahr 2040, beleuchtet verschiedene Aspekte des Lebens in einem Worst-Case-Szenario aus – viele Thesen kommen dem interessierten Leser durchaus bekannt vor (vgl. Harari, Hofstetter, Welzer). Etwa die Degenerierung der Bürger zu Komfort-orientierten Konsumenten, die ihre Entscheidungen an die Umgebungsintelligenz delegieren. „Man hat Autonomie gegen Bequemlichkeit getauscht, Freiheit gegen Komfort und Abwägung gegen Glück. (…) Wozu Urteilskraft, wenn Algorithmen und diejenigen, denen sie gehören, mich besser kennen als ich mich selbst?“ (S. 69) Die Konsequenz für das politische System: Verheerend. „Postdemokratie – jene erfolgreiche Staatsform, welche Demokratie täuschend echt simuliert, obwohl gewählte Politik in ihr gar keine Macht mehr haben.“ (S. 72)
Precht analysiert die Dystopie bis in das Seelenleben hinein und ahnt sorgenvoll: „Diese Welt ist ohne Transzendenz. Denn je mehr der Mensch via Technik über die Natur herrscht, umso seelenloser erscheint ihm das Beherrschte. (…) Die Natur ist entwertet, viel zu unspektakulär geworden und für unsere Kinder nichts als eine Enttäuschung an Langsamkeit und überschaubaren Dimensionen. Gegen die Simulation hält die Wirklichkeit nicht stand.“ (S. 78)
DIE UTOPIE für das digitale Zeitalter: Zu arbeiten, etwas zu gestalten, sich selbst zu verwirklichen liegt in der Natur des Menschen
Der Kern der Utopie von Precht bildet zweifelsohne das Thema Arbeit und deren Stellenwert in der digitalen Ära, wo uns Robotisierung , Automatisierung in Verbindung mit künstlicher Intelligenz (KI) – im besten Fall – von der Arbeit befreien bzw. befreien könnten. Der Autor verfolgt die Bewertung von Arbeit entlang der Ideengeschichte – kaum überraschend, denn hier kennt er sich aus. Von Marx weiß er zu berichten, dass dieser zwar die entfremdete Arbeit bekämpfte, aber: „Für Marx und Engels ist der Mensch gerade dadurch definiert, dass er arbeitet.“ (S. 104) Auch Oscar Wilde, der irische Dandy, hält an der Bedeutung der Arbeit fest: „Erst wenn der Mensch sich von den niederen Lohnarbeiten befreit, wird er seinen Individualismus verwirklichen können.“ (S. 104) Auch der US-amerikanische zeitgenössische Soziologe Richard Sennett hält hieran noch fest.
Schließlich der Hinweis, dass der Ursprung unserer heutigen Arbeits- und Leistungsgesellschaft noch gar nicht so lange zurück liegt: „Die Arbeits- und Leistungsgesellschaft, die uns derzeit so selbstverständlich erscheint, als sei sie die einzig sinnvolle Form von Gesellschaft, ist eine englische Erfindung zu Anfang des bürgerlichen Zeitalters.“ (S. 114) Und auch diese (vermeintliche) Leistungsgesellschaft demontiert er noch: „Doch der Begriff Leistung ist ein äußerst nebliges Wort. Denn dass ein Mensch, der mit windigen Versicherungsmodellen zuungunsten seiner Kunden Milliardär wird, mehr leistet als eine Altenpflegerin mit niedrigem Lohn, ist eine steile These. (…) Und wenn es darauf ankommt, bewundern die meisten Menschen vor allem Erfolg und nicht (eine öffentlich nicht gewürdigte) Leistung.“ (S. 114)
Nach derartiger Vorarbeit, nach Dekonstruktion des Leistungsbegriffs und Einordnung der Begriffsgeschichte von „Arbeit“ formuliert Precht die zentrale These seiner Utopie: „Eine humane Utopie befreit den Menschen (…), der seine Arbeitsleistung gegen Geld tauscht. Vielmehr erkennt sie Arbeit als das Bedürfnis sehr vieler Menschen, etwas zu tun, das ihr Leben erfüllt und Sinn stiftet. Deshalb trennt sie den Begriff der Arbeit als freie Tätigkeit vom Begriff der Lohn- und Erwerbsarbeit. Seit der Antike und verstärkt seit der ersten und zweiten industriellen Revolution träumen Dichter und Denker den Traum, den Menschen von der Notwendigkeit zu befreien, unter Zwang arbeiten zu müssen. Der technische Fortschritt könnte diesen Traum im 21. Jahrhundert für sehr viele Menschen Realität werden lassen (…).“ (S. 124) Für sehr viele. Nicht für alle natürlich. Denn „(…) einen Topmanager, Außenminister, Bundesligaprofi, Projektmanager oder Chefarzt, der Teilzeit arbeitet, wird es auch in Zukunft nicht geben.“ (S. 126f)
Nun lanciert Precht das Konzept des Bedingungslosen Grundeinkommens (BGE), das Thomas Morus in seinem Werk Utopia zum ersten Mal formuliert. Precht hält das BGE für unvermeidbar („Zeitalter von immer weniger Erwerbsarbeit“), für finanzierbar („Von allen Fragen, die das BGE aufwirft, ist die Finanzierung (…) das kleinste Problem.“) und die Abschaffung von Arbeit als (nur einen von mehreren möglichen) Sinnstiftern für unkritisch („„Dass der Mensch nichts mehr mit sich anzufangen weiß und seinen Lebenssinn verliert, wenn er nicht für Geld arbeitet, ist eine steile Unterstellung.“). Alle drei Punkte sind strittig, die Debatte zwischen Befürworten und Gegnern des BGE zeigt es (Vgl. auch: „Bedingungsloses Grundeinkommen: Eher nicht“).
Ob die Erwerbsarbeit tatsächlich verschwindet, ist noch offen; die Propheten der digitalen Ära sind sich hier noch uneins. Formuliert man die Utopie einmal etwas radikaler, treten mit einem Mal Fragen zutage, die bei Precht – und in der Debatte um das BGE grundsätzlich – gar nicht zur Sprache kommen: Nehmen wir einmal an, dass im Jahr 2100 tatsächlich überhaupt niemand mehr arbeiten müsse. Die Arbeit in Landwirtschaft, Industrieproduktion, Gesundheitsversorgung undsoweiter wird vollständig von Maschinen übernommen. Klingt erstmal gut. Wenn nun aber niemand mehr arbeitet und folglich das Leistungsprinzip (das nach Precht in seiner meritokratischen Reinform ohnehin nicht existiert) nicht mehr greifen kann, wie verteilen wir dann die Früchte des technischen Wohlstands? Jeder das Gleiche? Nota bene: Die Ressourcenknappheit besteht ja weiter, nicht jeder kann eine 400qm-Villa mit Seegrundstück bewohnen, schon gar nicht bei einer Weltbevölkerung von 11,2 Milliarden Menschen. Müssen wir alle Produktionsmittel verstaatlichen? Gibt es eine privilegierte politische Klasse? Oder bleibt die Ordnung kapitalistisch, die Hauptgewinne fallen den Anteilseignern derjenigen Unternehmen zu, die sich überlegener KI und Robotertechnologie durchgesetzt haben?
Stellt man Prechts Utopie einer solchen radikalen Perspektive gegenüber, so lässt sich erkennen, dass Precht – wenn man so will – eine „Mittelfrist-Utopie“ vorstellt. Eine Utopie eben, die sich bin zum Jahr 2040 verwirklichen lässt – von heute an in etwa 20 Jahren. Precht entwickelt insofern keine echte U-Topia (den Nicht-Ort), sondern er skizziert eine Entwicklung, die er politisch für gangbar hält. Er wendet sich ja mit seinem Buch auch ganz explizit an die Politik, er agiert quasi als Politikberater (ganz in der intellektuellen Tradition eines Günther Grass etwa). Ich stimme mit dieser Utopie nicht überein, aber die „virtuelle Diskussion“ mit dem Autor Precht ist darum nicht weniger kurzweilig und weniger bereichernd.
Gute Ideen für den Tag: Neugier, Motivation, Sinn und Glück
Der Leserschaft kennt den Autor Richard David Precht als Intellektuellen, als Philosophen des „guten Lebens“ (die Philosophie beschäftigt sich ja seit Platon, Sokrates, Aristotoles mit eben dieser Frage). Es ist darum keine Überraschung, wenn der Autor auch immer wieder aus diesem Blickwinkel einen Blick auf die gegenwärtigen Zustände wirft: „(…) spätestens mit dem Franzosen Auguste Comte wird der Fortschritt mit 19. Jahrhundert zu einer Zivilreligion. (…). Mit dem Grundzustand der Zufriedenheit allerdings ist es unter diesen Vorzeichen vorbei. (…) Auf diese Weise wurde der Unzufriedenheit mit dem Status Quo zum Motor des Fortschritts von der viktorianische Zeit zu den heutigen Gesellschaften des 21. Jahrhunderts. Keine Zufriedenheit eines Kunden darf lange währen, ansonsten ist er nicht bereit, Neues zu kaufen. Aus der Bedarfsdeckungsgesellschaft ist eine Bedarfsweckungsgesellschaft geworden. Und das Glück liegt immer in der Zukunft.“ (S. 160)
An anderer Stelle liest man: „Immer mehr an Komfort kann zugleich ein immer weniger an Glück bedeuten, jedenfalls dann, wenn es nichts mehr gibt, was einem zu tun bleibt. Ein Zustand des ultimativen Komforts ist ein Zustand des Stillstands.“ (S. 163) Und schließlich relativiert er die Verheißungen des technischen Fortschritts, die Aussicht auf ein müheloses Leben: „Bislang hat noch jeder technische Fortschritt Menschen die Zeit geraubt. Wie der Soziologe Hartmut Rosa gezeigt hat, wächst mit den Möglichkeiten zugleich der Anspruch. Wer früher sechs Briefe beantwortet hat, muss heute auf sechzig E-Mails reagieren.“ (S. 164f).
Es sei an dieser Stelle wiederholt: Precht positioniert sich nicht gegen den technischen Fortschritt. Die Segnungen sind ihm wohl bewusst („Die Stadt wird leiser, grüner und vor allem: sicherer! Mehr als 90 Prozent aller Verkehrsunfälle gehen auf menschliches Versagen zurück. Bei selbstfahrenden Autos könnten sie gegen null gehen.“, S. 190). Aber Precht fordert eine demokratische Steuerung der technischen Modernisierung der Gesellschaft. Er formuliert hier einen unüberhörbaren Appell an die Politik: „Sollte es 2018 nicht normal sein, dass die Staaten Europas ihren Bürgern eine Infrastruktur im Netz zur Verfügung stellen, die ihr Daten schützt? Ob Suchmaschine, E-Mail-Verkehr, soziales Netzwerk, digitale Stadtpläne oder Sprachassistenten – all das gehört im digitalen Zeitalter zur Grundversorgung und dürfte nicht in den Händen von Quasi-Monopolisten liegen.“ (S. 232) Und: „Die Aufgabe der Politik für das Jahr 2018 und darüber hinaus ist damit klar umrissen. Sie muss ihre Selbstverzwergung überwinden, aus ihrem pragmatischen Schlummer erwachen und die Dinge wieder unter Kontrolle kriegen, die sie hat schleifen lassen.“ (S. 255)
P.S.: Auf YouTube findet sich eine sehenswerte Diskussion (vom 16. April 2019) zwischen Richard David Precht und dem Soziologen Prof. Dr. Armin Nassehi zum Thema „Chancen und Risiken der Digitalisierung“. Die beiden Diskutanten nehmen hierbei das Buch von Precht als Ausgangspunkt und leuchten verschiedene Aspekte im Detail aus bzw. betrachten weitere Themenbereiche.