Das Buch gehört zweifelsohne zu den TOP5 Neuerscheinungen der Managementliteratur in 2020, die jede Führungskraft auf der Leseliste haben sollte. Das Milliarden-Unternehmen Netflix ist hierbei Schauplatz und Versuchsfeld einer Reihe von Managementprinzipien, die einen wichtigen Beitrag zum Erfolg des Unternehmens geleistet haben. Was das Buch hierbei so besonders macht, fasst die Co-Autorin und Professorin Erin Meyer der INSEAD Business School wie folgt zusammen: “Ich [und das gilt nun auch für alle Leser*innen] hatte die Chance herauszufinden, wie ein Unternehmen, dessen Kultur allem widersprach, was wir über Psychologie, Betriebsführung und das menschliche Verhalten wissen, so bemerkenswerte Resultate erzielen konnte.“ (S. 22f)

Der Inhalt des Buches ist zweifellos wertvolle Inspiration. Jede Führungskraft, die das Buch gelesen hat, dürfte andererseits feststellen, dass sich die Regeln nicht so einfach umsetzen lassen, wie ein Küchenrezept aus einer beliebigen Online-Rezeptesammlung. Hierauf werde ich noch zu sprechen kommen.

„Keine Regeln. Warum Netflix so erfolgreich ist“, Autoren: Reed Hastings, Erin Meyer, Econ Verlag, 26 Euro, Erscheinungsjahr 2020, 400 Seiten

“Keine Regeln“ von Reed Hastings: Inspiration für Führungskräfte

Wenn man das Buch von Reed Hastings in einem Elevator-Pitch zusammenfassen sollte, dann sähe das etwa wie folgt aus: Im ersten Schritt musst Du im Unternehmen die Talentdichte erhöhen; Low- und Medium-Performer ziehen die gesamte Teamleistung herunter und machen das Unternehmen weniger attraktiv für Top Talent. Zweitens, etabliere eine Kultur des permanenten Feedbacks; nicht nur positives Feedback, sondern auch negatives Feedback, das Leuten hilft, ihre Schwachstellen zu überwinden. Und drittens, beseitige Kontrollmechanismen; Letzteres reicht von Reisekostenrichtlinien, Urlaubsregelungen bis hin zu Budgetfreigabeprozessen.

Man könnte dies als den „Dreisatz der Netflix-Unternehmenskultur“ bezeichnen. Es ist sicherlich kein Zufall, dass die Unternehmenskultur genau in DREI zentrale Prinzipien aufgegliedert wird. Diese Zahl ist eine Konstante von erfolgreichen Narrativen, auch Steve Jobs hat seine Vorträge an eben dieser magischen Zahl ausgerichtet.

Die drei Prinzipien haben – das dürfte jede Führungskraft bestätigen – ein hochexplosives Potential: Wer als Führungskraft mit guter Absicht zum Beginn des nächsten Monats eine Netflix-Kulturrevolution anstößt, Urlaubsregelungen ersatzlos streicht, Budgetfreigabeprozesse außer Kraft setzt und von allen über alle Hierarchiegrenzen hinweg permanentes Feedback einfordert, der dürfte zunächst einmal Sturm ernten. Umso wichtiger ist es, den sukzessiven Prozess der Einführung nachvollziehen zu können und das subtile Regelwerk, das der „No Rules“-Kultur bei Netflix zugrunde liegt.

“Keine Regeln“ von Reed Hastings: Umsetzung in der Praxis

Talentdichte erhöhen. Jede Führungskraft wird hier zustimmend nicken. Es ist um so Vieles einfacher, mit Top Performern ein Unternehmen oder ein Projekt erfolgreich zu machen. Brauchen wir dafür das Buch von Reed Hastings, um das zu lernen? – Natürlich nicht. Die Autoren unterstreichen über diese Selbstverständlichkeit hinaus, dass schwache Teammitglieder die Leistung eines ganzen Teams herunterziehen können. Das illustrieren die Autoren auch mit einer interessanten Studie, nämlich von Will Felps an der University of New South Wales in Australien:

“Felps stellte fest, dass das destruktive Verhalten einer einzigen Person die Leistungen des gesamten Teams beeinträchtigte, selbst wenn die übrigen Mitglieder außerordentlich talentiert und intelligent waren. In Dutzenden Versuchen, die sich über mehrere Monate zogen, zeigte sich, dass die Ergebnisse der Gruppen, die einen Low Performer enthielten, um verblüffende 30 bis 40 Prozent schlechter waren als die anderer Teams.“

Diese Beobachtungen können Führungskräfte sicherlich bestätigen. Ich selbst komme aus der Softwarebranche und kürzlich hat mir ein Entwicklungsleiter eine weit verblüffendere Geschichte bestätigt: In seinem damaligen Unternehmen wurden 40% Mitarbeiter entlassen, Grund war die prekäre wirtschaftliche Situation des Unternehmens. Die Entlassungen haben sich dabei vollständig am Leistungsprinzip orientiert, so dass die leistungsstärksten Kollegen im Unternehmen geblieben sind. Resultat: Der Output des Entwicklungsteams hat sich (bei geringer Kopfzahl) mehr als verdoppelt. Der beste Entwickler war sogar um 400% (!) produktiver als vorher. Die Erklärung aus Sicht des Entwicklungsleiters: Die schwächeren Kollegen haben das Top Talent regelmäßig um Rat und Hilfe gebeten, das hat den größeren Teil der Arbeitszeit in Anspruch genommen. Die Produktivität ist dann sprunghaft angestiegen, als diese „Ablenkungen“ nach der Entlassungswelle entfallen sind.

Netflix lebt diese Kultur der Talentdichte und der Top Performer rigoros: Das wird erreicht mit den besten Gehältern der Branche und kein Federlesens bei Entlassungen. Das erinnert – einige Leser*Innen erinnern sich vielleicht – an jene Vorgabe des legendären Ex-Managers von General Electric, Jack Welsh, der von seinen Führungskräften einforderte, jedes Jahr 10% der Mitarbeiter abzubauen – auch mit dem Ziel, den Anteil der Low Performer zu reduzieren.

In dieser Konsequenz werden die meisten Unternehmen eine solche Kultur nicht umsetzen können. Nicht alle Unternehmen können ausschließlich Top Performer beschäftigen, so viele Top Performer gibt es schlicht nicht; Netflix hat im Übrigen eine außerordentlich hohe Profitabilität, was die Spitzengehälter für die Top Performer ermöglicht – auch hier ergeben sich Grenzen für viele Unternehmen, die die Netflix-Kultur gerne umsetzen möchten.

Es kommt hinzu, dass die rigorose Auslese nach dem Leistungsprinzip nicht immer funktioniert, und auch aus ethischen Gesichtspunkten an Grenzen stößt. Entlassungen orientieren sich etwa in Deutschland an sozialen Gesichtspunkten, in Unternehmen mit Betriebsrat dürfte eine Netflix-Kultur – vorsichtig formuliert – in Reinform nicht umsetzbar sein.

Die Erkenntnisse sind darum nicht weniger wertvoll. In einigen Bereichen mag die Maximierung der Talentdichte möglich sein; für entscheidende Projekte oder Geschäftsbereiche etwa. Es wäre aber unrealistisch anzunehmen, dass diese (einfache) Strategie in allen Bereichen möglich ist. Die ungleich größere Herausforderung lautet dann, dass Führungskräfte Schwachpunkte gezielter angehen müssen, etwa mit Weiter-/Fortbildungen, einer anderen Gestaltung von Aufgaben, Rollen, Prozessen – ganz generell: Mittel und Wege finden, den konstruktiven Beitrag von Low Performern zu erhöhen.

Feedback-Kultur, inklusive negativem Feedback. Mag in der Netflix-Kultur negatives Feedback erwünscht sein, so gibt es in der Praxis eine Reihe von Regeln und Prinzipien, die eine feine Linie zieht zwischen „akzeptablem negativen Feedback“ und „dekonstruktivem negativen Feedback“. Es ist eine herausragende Qualität des Buches, dass Reed Hastings selbst und Dutzende von Mitarbeiter*innen einen tiefen Einblick in den Unternehmensalltag erlauben, so dass diese Details sichtbar werden. Und eben diese Details sind eminent wichtig, um zu verstehen, wie sich das in der Praxis umsetzen lässt. Hier empfehle ich unbedingt, das Buch zu lesen.

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Author

Der Autor ist Manager in der Softwareindustrie mit internationaler Expertise: Prokurist bei einem der großen Beratungshäuser - Verantwortung für den Aufbau eines IT Entwicklungszentrums am Offshore-Standort Bangalore - Director M&A bei einem Softwarehaus in Berlin.