„Träge Transformation. Welche Denkfehler den digitalen Wandel blockieren“, von Sascha Friesike, Johanna Sprondel, Recmal Verlag, April 2022, 90 Seiten, 6 Euro
Es gibt sie noch: Die guten kompakten Büchlein von Reclam. Zu meinen Schulzeiten konnte man sich damit budgetschonend Goethe, Schiller, Lessing & Co. erschließen … und nun gibt’s in diesem Good Old Print Format eine pfiffige Essay-Sammlung zum Thema Digitalisierung und Digitaler Transformation.
Die beiden Autoren, Sascha Friesike und Johanna Sprodel (mehr zu den Autoren weiter unten), kommen – wie viele andere Autoren auch – bezüglich des Fortschritts der Digitalen Transformation in Deutschland zum allbekannten Schluss: Deutschland hinkt hinterher. Das bedarf keiner breiten Erläuterung, dankenswerterweise verzichten die Autoren darauf. Vielmehr fokussiert das Buch auf die Ursachenanalyse. Und hier liefert das kluge Büchlein Input, der die Diskussion bereichert.
Die Autoren stellen etwa fest, dass Deutschland ja keineswegs die Hände in den Schoss gelegt hätte. Aber trotz vieler Aktivitäten, Visionen und Großprojekten gibt’s keinen Ertrag. Das heißt: ”[es] muss etwas fatal schiefgegangen sein, wenn so viel Einsatz zu so wenig Ertrag führt.”. Das Büchlein benennt hier Roß und Reiter. Einer der Gründe ist etwa die “typisch deutsche Tendenz, Prozesse und Entscheidungen durch Ausschüsse und Komitees zu steuern”. Das führe zu einem “Spießrutenlauf durch Partikularinteressen”. Und am Ende mangele es an der Zeit für das Wesentliche: “Für den zeitaufwändigen Aushandlungsprozess, der für eine gelungene digitale Transformation nötig ist”.
Hier wird auch herausgearbeitet, was bisweilen allzu Technik-verliebte Diskussionen verschleiern: Gelungene digitale Transformation setzt nicht nur Technologiekompetenz voraus, es ist vielmehr ein äußert komplexer Prozess des Aushandelns: ”Ständig muss neu ausgehandelt werden, was Technik leisten kann, was die Gesellschaft braucht und was die Bedingungen sind, unter denen man zusammenfindet. Im Kontext der ‘digitalen Revolution’ hat dieser Prozess der Aushandlung, so scheint es, nur in Teilen stattgefunden, mit dem Ergebnis, dass Anspruch und Wirklichkeit weit auseinanderklaffen.”
Im Übrigen führen Sasche Friesike und Johanna Sprondel eine begriffliche Differenzierung ein, die eminent wichtig ist im Diskurs um eine “Digitale Gesellschaft”. Nämlich: Der Unterschied zwischen “Digitalisierung” und “Digitaler Transformation”:
”Digitalisierung ist zunächst einmal die Übersetzung von Analogem in Digitales – nicht mehr, aber auch nicht weniger: Texte werden eingescannt und damit von einem Blatt Papier in ein PDF übertragen (…), Musik wird in die akustisch relevanten Teile zerlegt und z.B. in einer MP3-Datei wieder zusammengefügt. (…) Digitalisierung macht einiges für einige einfacher zugänglich, sie verändert aber die Sache als solche nicht zu etwa Anderem oder macht sie zu etwas Besserem oder gar ‘Bürgerfreundlichem’” (S. 10f)
Demgegenüber handelt es sich bei der Digitalen Transformation darum, dass ”der Gegenstand selbst verändert wird. (…) Nehmen wir die erwähnte Landkarte, um das zu illustrieren. Inzwischen können wir in Echtzeit erkennen, ob wir in Kürze in einen Stau geraten werden, wo im näheren Umkreis das Benzin am günstigsten ist oder welche Autobahnraststätte am wenigsten schlecht wurde. Alle diese Funktionen konnten erst auf Basis einer digitalen Karte entwickelt werden. (…) Die auf Papier gedruckte Landkarte wurde also nicht nur digitalisiert, sondern durchlief den Prozess einer digitalen Transformation und wurde zu etwas grundlegend anderem.” (S. 12f)
Träge Transformation: Acht Essays über gängige Missverständnisse
Den Kern des Buches machen schließlich acht (8) Essays über gängige Missverständnisse aus, die Stolpersteine für eine gelungene Digitale Transformation darstellen. Zu diesen Missverständnissen zählt etwa “Am Anfang steht die Vision”. Mit geradezu kabarettistischem Grundton führt dieser Essay aus, dass immer wieder “Moonshot”-Visionen an den Anfang einer Digitalisierungs-Roadmap gestellt werden. Zum einen jedoch sind solche Langfrist-Ideen häufig völlig entkoppelt von den tatsächlichen Ressourcen und Prozessen einer Organisation, für die solche Visionen entwickelt werden; die praktische Relevanz ist damit höchst fraglich. Zum anderen lenken diese Visionen von den eigentlich zu lösenden alltäglichen Problemen ab und führen zu einer unglücklichen Priorisierung.
Schon fast legendär ist der unglückliche Beitrag der ehemaligen Staatsministerin für Digitales, Dorothee Bär, die in einem Interview im ZDF „heute journal“ im März 2018 zum beschämenden Zustand der digitalen Infrastruktur in Deutschland erklärte: „Digitalisierung ist doch nicht nur der Breitbandausbau. Mein Thema ist auch: Habe ich die Möglichkeit, auch zum Beispiel mit einem Flugtaxi durch die Gegend fliegen zu können.”. – Hier werden also die offensichtlichen Versäumnisse beim Aufbau der grundlegenden digitalen Infrastruktur (Breitbandausbau) politisch übermalt mit einer “Moonshot”-Vision von Lufttaxis. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass jüngst ausgerechnet das Flug-Taxi-Start-Up Lilium erklären musste, dass sich der ursprünglich für 2022 terminierte Marktstart um 3 Jahre (!) auf 2025 verschieben wird. Und der Breitbandausbau …
Weitere Missverständnissen und Stolpersteine werden mit Witz und eingängiger Argumentation unter folgenden Überschriften erläutert. Nämlich:
Träge Transformation: Schlussappell
”Besserung kann wohl nur dann erreicht werden, wenn man sich wieder darauf besinnt, was die wirklich dringlichen Probleme sind und welche Strukturen digital transformiert werden müssen: Wir müssen uns darüber klarwerden, was keinen Aufschub mehr duldet und wo wir unsere Prioritäten setzen wollen.
Dabei ist es durchaus möglich, dass eine Konzentration auf das, was akuten Handlungsbedarf hat, deutlich weniger Strahlkraft entwickelt als prestigeträchtige ‘Leuchtturm’-Projekte. Solch bodenständige Arbeit lässt sich jedoch nicht mit Superlativen und Schlagwort-Imperativen anpreisen, und wahrscheinlich wird auch niemand einen Bus chartern, um sich einen realistisch angelegten und durchgeführten, gut ausgehandelten digitalen Vergabeprozess im Sauerland anzuschauen, der tatsächlich funktioniert. (…) Und wahrscheinlich kommt dabei manch transformationswütigem Beobachter das Interesse an Moonshots, Disruption und Co. abhanden.” (S. 86)
Träge Transformation: Die beiden Autoren
Ich bin mal so frei, hier einfach die Highlights aus dem Autorenprofil im Klappentext zu nehmen – und natürlich Link zum LinkedIn-Profil:
Sascha Friesike (zum LinkedIn-Profil) ist Professor für Design digitaler Innovationen an der Universität der Künste Berlin und Direktor des Weizenbaum-Instituts für die vernetzte Gesellschaft.
Nachtrag November 2022: Sascha Friesike erhält den Essaypreis von Hertie-Stiftung und Wirtschaftswoche.
Johanna Sprodel (zum LinkedIn-Profil) ist Professorin für Medien, Kommunikation und Marketing in Stuttgart.