Das Buch Kritik der digitalen Vernunft unternimmt den Versuch, die Auswirkungen der Digitalisierung auf die Alltags- und Arbeitswelt, auf Politik und Gesellschaft in den wesentlichen Bereichen zu vermessen und auch Grenzen von Digitalisierung aufzuzeigen. Der Autor selbst beschreibt sein Buchprojekt als “wagemutigen Versuch (…), einen Blick auf das Ganze unseres Lebens in digitalen Zeiten zu werfen“. (S. 9)

Prof. Dr. Dr. Hemel setzt sich zu Beginn etwa mit der Frage auseinander, inwieweit sich unsere Realität grundsätzlich (vollständig) digital abbilden lässt. Kann ein „Apfel“ vollständig digital abgebildet werden? Reicht ein Bild mit einer Bildgröße (und entsprechenden Auflösung) von 1 MB, 5 MB oder 50 MB? Was ist mit Haptik, mit Geruch, Geschmack? Was ist mit kulturell überlieferten Konnotationen wie dem Apfel als „verbotene Frucht aus dem Paradies“? Es wird schnell klar, dass die von Menschen wahrgenommene Realität sehr vielschichtig ist – und von einem „digitalen Apfel“ wird man auch nicht satt.

Das Buch setzt auch den Menschen mit der Maschine ins Verhältnis. Menschen “kennen Kontexte und Situationen, die weitgehend zweckfrei sind (etwa das Spielen), Maschinen aber sind grundsätzlich auf ihren Zweck ausgelegt.“ (S. 28). Der Autor betrachtet Lernprozesse beim Menschen, auch das „Nutzenkalkül“ für die Investition in das Lernen – und das gilt ebenso beim Menschen wie bei der Maschine (bei der Maschine wird die Abwägung von einem Menschen getroffen). Es geht um Grundlagen der Entscheidungsfindung. Es geht um Wahrnehmung und Weltdeutung. Immer wieder werden interessante Konzepte eingeführt, etwa die „Theory of Mind“: “Es geht darum (…), dass wir nur dann das Verhalten anderer vorhersehen können, wenn wir eine ‚Theorie‘ über den anderen in uns selbst abgebildet haben. (…) Ein ausreichend bestimmtes Bild vom Anderen im Sinn einer ‚Theory of Mind‘ ist folglich die Voraussetzung für das Erlernen sozialer Kompetenz. (S. 99f).

Das Buch ist grundsätzlich in akademischem Duktus geschrieben. Dazu werden immer wieder persönliche Erlebnisse oder anekdotenhafte Geschichten rund um Digitalisierung erzählt. Etwa die amüsante Beobachtung einer Erzieherin in einem Kindergarten: “Draußen war ein Eichhörnchen zu sehen. Ein Vierjähriger ging zum Fenster und machte eine Wischbewegung zur Bildvergrößerung. Er war erstaunt, dass das nicht klappte.“ (S. 14f)

Das Buch betrachtet außerdem Fragen rund um den Umgang mit „digitaler Inkompetenz“, es beleuchtet „Digitale Politik“, Fragen der Ethik sowie „Digitale Politik“. Ich war etwas überrascht, wie knapp die zentrale Herausforderung um den Arbeitsmarkt der Zukunft abgehandelt wird. Der Autor verweist zunächst auf all die bekannten Studien zu einer Verdrängung von Arbeitsplätzen durch Automatisierung, Robotisierung (etwa die Studie von Carl-Benedikt Frey, Michael Osbourne). Dann konstatiert er lapidar: “Übersehen wurde aber häufig, dass ‚grundsätzliche Eignung‘ noch lange nicht heißt, dass (a) sich der Ersatz ökonomisch lohnt, dass (b) er im komplexen System eines Unternehmens sinnvoll ist oder dass (c) sich die Substitution in der vorgeplanten Geschwindigkeit vollzieht.“ (S. 167) Und ein paar Paragraphen weiter: “Insgesamt zeigen die verfügbaren Daten, dass der Bedarf an neuen, IT- und digital affinen Arbeitsplätzen stetig ansteigt und zahlenmäßig womöglich die entfallenden Arbeitsplätze kompensiert.“ (S. 169)

Wer den Diskurs rund um diese Herausforderung der Digitalen Transformation verfolgt, wird diese knappe Abhandlung als unangemessen bewerten, hiermit sind zudem zahlreiche Fragen verbunden wie der sinnstiftende Aspekt von Arbeit (vgl. Vermächtnisstudie von Jutta Allmendinger) oder die Frage der Ungleichheit bei Vermögens- und Einkommensverteilung. Hieran wird auch die Schwäche des Buches deutlich. Der Anspruch darauf, einen „Blick auf das Ganze unseres Lebens in digitalen Zeiten“ zu werfen, ist prinzipiell unvereinbar mit einer Vertiefung von einzelnen Aspekten (und seien sie noch so zentral). Wer die Debatte um Digitalisierung länger verfolgt, für den bietet das Buch darum nur bedingt neue Einsichten.

Im letzten Kapitel allerdings („Digitale Religion und digitale Humanität“) betrachtet der Autor noch einen Aspekt, den man zugegebenermaßen sonst selten betrachtet. Es geht um den „religiösen“ Aspekt von Digitalisierung, Unsterblichkeit, eine Heilserwartung. Wussten Sie, dass es bereits eingetragene „Computer-Kirchen“ gibt? – “(…) Anthony Levandowski, der bei Google als Entwickler von Google Street View angestellt war. Er hat die Computer-Kirche ‚Way of the Future‘ gegründet und im August 2017 in den USA eintragen lassen. (…) Für diese Religionsgründer steht im Vordergrund die ‚Realisierung, Akzeptanz und Anbetung einer Gottheit, die auf einer Künstlichen Intelligenz basiert‘.“ (S. 352)

„Kritik der digitalen Vernunft. Warum Humanität der Maßstab sein muss“, von Ulrich Hemel, HERDER Verlag, 32 Euro, Erscheinung September 2020, 370 Seiten

“Kritik der digitalen Vernunft“: Mein Fazit

Die „Kritik der reinen Vernunft“ ist bekanntermaßen ein Meilenstein der Philosophiegeschichte, das erkenntnistheoretische Hauptwerk des Philosophen aus Königsberg. Wer sein Buch in der Namensgebung von diesem Meilenstein der Aufklärung ableitet, der legt die Latte sehr hoch und setzt einen sehr hohen Anspruch. Nach meinem persönlichen Urteil als Leser wird dieser Anspruch jedoch nicht eingelöst.

Zwar gelingt dem Autor in einem Parforce-Ritt ein Überblick zu Fragen rund um Digitalisierung. Punktuell führt der Autor einige interessante Begrifflichkeiten ein für eine differenziertere Debatte. Für mich fehlt jedoch der eigenständige Beitrag zur Diskussion um Digitalisierung – und zwar weder bei der Problematisierung, noch bei Problemlösungsstrategien.

Zudem ist für mich bis zuletzt nicht erkennbar geworden, an welche Zielgruppe sich das Buch eigentlich richtet: Für Neueinsteiger in den Diskurs um Digitalisierung ist das Buch mit einem vorwiegend akademischen Duktus zu sperrig, für Entscheider fehlt zu häufig der Praxisbezug und die Konkretisierung.

Bei dem Versuch der Einordnung der Digitalisierung holt der Autor auch bisweilen zu weit aus, es werden Selbstverständlichkeiten erläutert, die im Jahr 2020 als bekannt vorausgesetzt werden sollten/könnten: “Im 20. Jahrhundert galt lange das Prinzip der Betriebstreue, idealerweise mit ein und demselben Arbeitgeber ‚vom Beginn bis zum Ende der Berufstätigkeit‘. In den letzten 20 Jahren wurde dies allmählich durch die zunehmende Normalität einer Abfolge von Beschäftigungen bei unterschiedlichen Arbeitgebern abgelöst.“ (S. 171)

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Der Autor ist Manager in der Softwareindustrie mit internationaler Expertise: Prokurist bei einem der großen Beratungshäuser - Verantwortung für den Aufbau eines IT Entwicklungszentrums am Offshore-Standort Bangalore - Director M&A bei einem Softwarehaus in Berlin.