“Die 10 Irrtümer der Antikapitalisten – Zur Kritik der Kapitalismuskritik“, von Rainer Zitelmann, Erscheinungsjahr: 2022, 260 Seiten, 25 EUR (Taschenbuch)
Allerorten trifft man auf den Reflex, dem Kapitalismus allerlei negative Effekte zuzuschreiben: Von Umweltzerstörung, moderner Sklaverei, Ausbeutung bis zu Vereinsamung. Der Lösungsvorschlag läuft dann häufig darauf hinaus, den Kapitalismus abzuschaffen. Nicht nur stellt sich die Frage, was eigentlich nach der Abschaffung des sogenannten Kapitalismus folgen soll (Sozialismus, Kommunismus?); vor allem aber werfen diese Vorwürfe an den Kapitalismus die Frage auf, welche Zusammenhänge denn wirklich bestehen, und was an diesen Vorwürfen dran ist.
Wer diesen Fragen nachgehen will, dem kann ich das Buch von Rainer Zitelmann nur wärmstens empfehlen. Der Autor trägt eine Vielzahl von Daten und Fakten zusammen, und argumentiert systematisch, gut nachvollziehbar, durchaus auch unterhaltsam. Ich stelle nachfolgend zu zwei „Irrtümern“ einmal exemplarisch einige Fakten vor.
Zuvor erlaube ich mir, darauf hinzuweisen, dass der Kapitalismus ganz wesentlich auf dem Funktionsprinzip des Marktes basiert. Und ebendieser Markt ist ein politisches Konstrukt, das auf Regeln basiert, auf Gepflogenheiten, auf eine eingeübte Kultur des miteinander Wirtschaftens. Der Markt und die zugrunde liegenden Ziele unterliegen damit einer gesellschaftlichen, eine politischen Entscheidung. Wir können Märkte gestalten. Das „Design“ von Märkten – so bringt die Starökonomin Mariana Mazzucato (vgl. dazu auch den Blogpost: Buchempfehlung: „Mission Economy“ – über eine missionsorientierte Gestaltung der Märkte) in Erinnerung – ist nicht gottgegeben, sondern unterliegt politischer Gestaltung. Die De-Regulierung des Finanzsystems war eine politische Entscheidung. Die Befeuerung von Konsum und damit Wachstum durch Schulden war eine politische Entscheidung. In den USA lag der Spitzensteuersatz zwischen 1932 und 1980 im Schnitt bei 81% (sic!) – bis zur Ära Reagan. Auch das eine politische Entscheidung.
Und noch etwas möchte ich mitgeben. Vor drei Wochen habe ich einen Freund beim Essen getroffen, und er erzählte mir sehr pointiert die Entwicklung der Kultur des Miteinander in einem türkischen ländlichen Dorf, in dem der Wohlstand eingezogen ist: Anfangs saßen die Bewohner des Dorfes abends um ein Feuer versammelt, erzählten sich Geschichten. Dann hielt der erste Fernseher Einzug, das Dorf versammelte sich am Fenster des Dorfbewohners, der sich eben diesen Fernseher leisten konnte. Und – Sie ahnen es – einige Jahre später hatten alle Dorfbewohner einer Fernseher und verbrachten ihre Abende jeweils im eigenen Haus.
Diese Geschichte haben Sie in dieser oder anderer Form sicherlich schon einmal gehört. Die entscheidende Frage ist ja nun: Dieser Verlust der Gemeinschaft in diesem Dorf, wer ist eigentlich schuld daran? Hier hat sich ein gewisses Maß an Wohlstand eingestellt (und das geht ja auch einher besserer medizinischen Versorgung, längere Lebenserwartung, usw.), dazu hat zweifellos ein kluges Wirtschaften beigetragen. Aber muss man nun auch dem Wirtschaftssystem diese Entwicklung zurechnen? Wie Wohlstand in Lebensqualität übersetzt wird, ist eine gesellschaftliche Entscheidung und wird nicht vom Wirtschaftssystem vorgegeben. Das wird meines Erachtens nach häufig zu wenig differenziert in Diskussionen …
Irrtum: Kapitalismus ist verantwortlich für Hunger und Armut
Es ist ein wenig verblüffend, dass es sich bei um einen ernst gemeinten Vorwurf an den Kapitalismus handelt; als Ökonom finde ich eine solche These reichlichst absurd, aber sei’s drum: Tatsächlich ist das Kapitel trotzdem unglaublich spannend zu lesen, weil der Autor Zitelmann eine Argumentation abliefert, die interessante historische Fakten aufführt und gute Beispiele anführt.
So räumt Zitelmann an einer Stelle auch mit romantisierenden Phantasien über das vorkapitalistische Zeitalter auf: Hunger war eines der größten Probleme in vielen Ländern. (…) Die Volksnahrung bestand aus Brei, Suppe oder Brot aus minderen Mehlen, das nur in ein- bis zweimonatigem Abstand gebacken wurde und fast immer schimmelig und so hart war, dass es mancherorts mit der Axt zerteilt werden musste. (…) Oft war Essen gleichbedeutend mit dem lebenslangen Verzehr von Brot und nochmals Brot oder von Mus und Brei. (…) Die Menschen damals waren mager und kleinwüchsig – die gesamte Geschichte hindurch hat sich der menschliche Körper an unzureichende Kalorienzufuhr angepasst.“ (S. 21)
Der Autor betrachtet auch verschiedene Phasen der Entwicklung in China. Etwa den sogenannten „Großen Sprung nach vorne“ unter Mao, der rund 45 Millionen Menschen das Leben gekostet hat und ein grausames sozialistisches Experiment darstellte. Zitelmann betrachtet zudem die sukzessive Umstellung einer sozialistischen Bewirtung von Feldern auf eine privatwirtschaftliche Bewirtschaftung: “Nach den Erfahrungen mit dem ‚Großen Sprung nach vorne‘ gingen die Bauern in immer mehr Dörfern dazu über, auf eigene Initiative den Privatbesitz an Ackerland wieder einzuführen, obwohl das offiziell verboten war. Aber es zeigte sich rasch, dass die Erträge der privaten Landwirtschaft sehr viel höher waren, und so ließen die Parteifunktionäre die Menschen gewähren. (…) in einem dieser kleinen Dörfer erlaubte die Parteiführung den Bauern, die besonders ertragsarmen Felder privatwirtschaftlich zu bestellen. Kaum hatte man dies gestattet, fiel der Ertrag dreimal so hoch aus wie bei den kollektiv bewirtschafteten Böden.“ (S. 25)
Und noch ein interessanter Fakt: “Beim Begriff Hungersnöte, schreibt der Sinologe Felix Wemheuer in seinem Buch ‚Der große Hunger‘, denken die meisten als Erstes an Afrika. Im 20. Jahrhundert starben jedoch 80 Prozent aller Opfer von Hungersnöten in China und der Sowjetunion. (S. 32)
Irrtum: Kapitalismus ist schuld an Umweltzerstörung und Klimawandel
Es gibt hier zwei Aspekte. Schauen wir uns das einmal an.
Der erste Aspekt betrifft Umweltschutzstandards. Und hier gilt, dass Länder mit einem hohen wirtschaftlichen Freiheitsgrad im Ländervergleich am besten abschnitten in punkto Umweltschutz. Ein gleicher Zusammenhang besteht zwischen Bruttosozialprodukt und Umweltstandards. Umweltschutz muss man sich „leisten“ können.
“1992 konstatierten die amerikanische Sowjetunion-Experten Murray Feshbach und Alfred Friendly jr. In dem Buch ‚Ecocide in the USSR‘, dass keine andere industrielle Zivilisation ihr Land, ihre Luft und ihre Menschen so systematisch und so lange vergiftet hat. Man denke nur an Tschernobyl …
Der zweite Aspekt ist freilich Gegenstand gängiger Diskussionen, der Autor Zitelmann schreibt: “Natürlich kann man argumentieren, dass der Kapitalismus zu höherem Wirtschaftswachstum führt und Wirtschaftswachstum wiederum zu einem Anstieg des Ressourcenverbrauchs. Nach dieser Logik wären die ineffizientesten Systeme für die Umwelt die besten.“ (S. 71)
Fazit
Ein spannendes, sehr gut recherchiertes Buch.
Man mag Zitelmann nicht bei jeder Argumentation folgen bzw. zustimmen, aber seine Argumente verschaffen jeder Diskussion zu diesem Themenkomplex eine solide Grundlage.
Viel Spaß beim Lesen!