Wie steht’s um den „homo politicus“? – Naja, naja! Eine SPIEGEL-Umfrage kurz vor der Bundestagswahl 2017 ergab, nur etwas mehr als die Hälfte der Befragten können den Ministerpräsidenten ihres Heimatbundeslandes richtig benennen; nur knapp die Hälfte weiß, dass Russland kein NATO-Mitglied ist. Undsoweiter. SPIEGEL-Fazit: Halbwissen. Mein Fazit: Gefährliches Halbwissen. Man kann sich nun in etwa vorstellen, wie Brexit und Trump passieren konnten.

Vielleicht haben wir auch einfach zu wenig Zeit für die politische Meinungsbildung – Job, Kinderbetreuung, Fitness, Lieblingsserie und Hausarbeit. Eigentlich halb so schlimm: Dafür gibt’s ja den Wahl-O-Mat: Der fragt nach unserer Meinung zu den wichtigsten Themenfeldern, gleicht diese mit den Parteiprogrammen ab und macht eine Wahlempfehlung. Wem auch das zu viel ist, der kann dieses Frage-Antwort-Spiel sicherlich bald an Facebook oder Google delegieren – die kennen uns doch. Und haben wir uns erst einmal daran gewöhnt, dann können wir zukünftig unseren „digitalen Avatar“ wählen lassen; dann sparen wir uns sogar den Gang zur Wahlkabine.

Vielleicht ist die Welt aber auch zu komplex geworden, hängt den frustrierten „homo politicus“ einfach ab. Bereits die Globalisierung, die weltweite Vernetzung der Wirtschaftsströme hat eine schier undurchdringliche Komplexität erzeugt. Nun kommt die Digitalisierung hinzu, die den Vernetzungsgrad, die Komplexität weiter erhöht und zu einer enormen Beschleunigung sorgt. Die Expertin für Künstliche Intelligenz (KI) bzw. Digitalisierung, Yvonne Hofstetter, fragt vorsichtig, ob nicht KI der Politik helfen könnte, diese ansteigende Komplexität der Gesellschaft zu bewältigen – und warnt gleichzeitig vor den Konsequenzen eben dieser Digitalisierung: „Das große Paradoxon der Digitalisierung ist, dass sie die Antwort auf die Probleme bereithält, die sie erst selbst schafft. Sie hält Lösungsstrategien für die gigantische Komplexität bereit, die sie selbst herstellt.“

Das Buch beschreibt hierbei erfrischend das Gedankenexperiment, die Simulation einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft aufzubauen und einen „digitalen“ Politiker (eigentlich: Berater) in diesem Modell so zu trainieren, dass er/sie angesichts der wachsenden Komplexität des polit-ökonomischen Systems Maßnahmen für die Stärkung der Demokratie entwickeln kann. Der Leser blickt hierbei den Entwicklern dieses „Gesellschafts-Modells“ über die Schulter und gewinnt ein Verständnis der Funktionsweise von KI, er wird vertraut mit Begriffen wie Kybernetik, Multi-Agenten-Systeme, neuronale Netze, sogenannte Tiefschichter, Klassifizierer und mehr.

Wer das Modell einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft aufbaut, muss natürlich auch die Bedingungen von Demokratie verstehen, auch die diversen Subsysteme wie Wirtschaft. Die Autorin führt darum in einem schwindelerregenden Parforce-Ritt durch zahllose Themen: Den neuen Informationskapitalismus des Silicon Valley (und dessen inhärente Überwachungslogik), Modelle der Informationsverbreitung, die Fragmentierung der Gesellschaft durch Digitalisierung, die Entwicklung des internationalen Finanzsystems, die Griechenlandkrise, die Problematik der deutschen Handelsüberschüsse, digitale Währungen (Bitcoin), Industrie 4.0, demographische Entwicklung und Dutzende mehr. Dabei hält die Leitidee des Buches die weitschweifige Informationsflut nur lose zusammen, das Buch kommt daher wie das Ergebnis eines atemlosen Brainstorming mit enzyklopädischem Ehrgeiz. Eine klare Struktur fehlt zumal.

Die Botschaft von Frau Hofstetter bleibt trotzdem richtig. Sie warnt angesichts wachsender Umgebungsintelligenz vor dem Verlust von Entscheidungsspielräumen, dem Risiko der Diskriminierung durch Algorithmen-basierte Entscheidungen (die keineswegs unfehlbar sind). Sie warnt vor einem Verlust und einem Verlernen von Entscheidungsautonomie. Sie warnt vor dem Potential der Manipulation, das aufgrund der wachsenden Überwachung / Datensammlung und des damit möglichen Profiling entsteht; denn dabei handelt es sich um eine Manipulation, die wir zukünftig als solche gar nicht mehr erkennen können, weil die uns erreichenden Informationsströme zunehmend personalisiert werden und von unsichtbarer Hand gesteuert werden (können): So lassen sich nicht nur Konsumwünsche, sondern auch politische Präferenzen formen. Wussten Sie: „Der amerikanische Datenhändler Acxiom pflegt allein rund 44 Millionen Profile deutscher Internetnutzer, von denen jedes Einzelne aus bis zu 3.000 Einzeleigenschaften besteht.“

Daraus könnte man ein Appell an den Staat für grundrechtssichernde Regulierung ableiten: „Vom Verbot der Überwachung und Berechnung von Anwenderprofilen bis hin zur Ausweitung des Eigentumsbegriffs auf persönliche Daten ist hier vieles denkbar.“ Klar ist in jedem Fall: Angesichts der Bedrohung einer gesteuerten Meinungsbildung wird der informierte Bürger wichtiger denn je. Wir brauchen den systemischen Zweifel, die kritische Urteilsfähigkeit. Ohne fundiertes Verständnis für die Zusammenhänge wird politische Partizipation zur Farce, werden Meinung und Wahlstimme käuflich. Wer nicht in den allseits gegenwärtigen Katastrophalismus verfallen möchte, darf optimistisch annehmen: Während Digitalisierung die Demokratie einerseits auf eine Bewährungsprobe stellt, erleichtert sie andererseits den Zugang zu Information, schafft zeitliche Freiräume für die erforderliche (politische) Bildungsoffensive.

Aber, Frau Hofstetter, auch mit mehr Freizeit sind 512 Seiten trotzdem zu viel. Das geht auch kürzer. Bitte veröffentlichen Sie doch noch eine Executive Summary für LeserInnen mit Familienverantwortung, mit Hausarbeit, mit Vorkenntnissen.

Author

Der Autor ist Manager in der Softwareindustrie mit internationaler Expertise: Prokurist bei einem der großen Beratungshäuser - Verantwortung für den Aufbau eines IT Entwicklungszentrums am Offshore-Standort Bangalore - Director M&A bei einem Softwarehaus in Berlin.