Europas Digitalindustrie ist klar im Rückstand gegenüber USA und China, die „Digitale Souveränität Europas“ gleicht inzwischen einer Herkulesaufgabe, wenn nicht gar dem Kampf von David gegen Goliath. Kaum ein Manager oder Unternehmensgründer, der nicht zu einer großen Kraftanstrengung mahnt, etwa: Frank Riemensperger (Accenture), Verena Pausder, der Investor Dr. Cornelius Boersch und viele mehr. Und auch die Politik bläst ins gleiche Horn, formuliert ambitionierte Ziele; erst im Juni 2021 lud Frankreichs Präsident Macron führende Köpfe der Digitalen Szene in den Präsidentenpalast und forderte: Bis 2030 wolle er mindestens 10 europäische Tech-Firmen sehen mit einer Bewertung von mehr als 100 Milliarden Euro (aktuell: 3).

Utopisch? – Im Prinzip nicht. Die Spitzenforschung in Europa schafft eine Grundlage und global erfolgreiche Start-Ups wie Celonis oder Klarna belegen eine Unternehmerkultur, die auch groß denken kann. Aber wer dieses Potential wirklich in wirtschaftliche Stärke umwandeln will, muss die Rahmenbedingungen für Start-Ups verbessern. Genau das haben europäische Start-Ups nun eingefordert in einem Manifest mit dem Titel „Action Plan to Make Europe the new Global Powerhouse for Start-Ups“ (Download: HIER:). Die Forderungen / Empfehlungen werden in vier Themenblöcke gegliedert, die ich nachfolgend kurz skizziere.

Der Bedarf einer europaweit koordinierten Strategie ist unter Szenekennern dabei unstrittig. Auf der Veranstaltung „Digitalpolitische Agenda 2030“ (Juni 2021) macht etwa auch Karl-Heinz Streibich (Präsident acatech – Deutsche Akademie der Technikwissenschaften) klar, dass man ein strategisch geplantes Programm über eine gesamte Dekade aufsetzen müsse. Und dabei müsse Europa arbeitsteilig arbeiten, denn sonst seien wir zu langsam! Ganz grundsätzlich müssten wir europäisch denken – nicht mehr national: Und zwar bezogen auf alle Aspekte, darunter Märkte und KnowHow. Es gehört auch dazu, europaweit Standards zu schaffen.

Nun zum Action Plan:

Open Data

In der Datenökonomie der Digitalen Ära gilt: „Daten sind das neue Öl“. Leider gilt, dass die Verfügbarkeit von Daten gegenwärtig eingeschränkt ist. Auf der bereits genannten Veranstaltung „Digitalpolitische Agenda 2030“ erklärte der indisch-stämmige Unternehmer Dr. Gunjan Bhardwaj: „Wir kochen alle unsere eigene Suppe“ (Frankreich, Deutschland, …). Keiner wolle Daten teilen, das sei seine Erfahrung beim Aufbau von Innoplexus, das Daten rund um Krebstherapie, Krebsmedikation, Forschung und mehr integriert und Betroffenen zur Verfügung stellt (Innoplexus – das „Google für die Onkologie“: www.innoplexus.de)

Darum die Forderung der Europäischen Start-Ups: Die Regierungen sollten die in ihrem Besitz befindlichen Daten frei für innovative Unternehmen zur Verfügung stellen, die sie für die Entwicklung neuer Produkte und Dienstleistungen nutzen würden..

Talententwicklung

Die zweite Forderung bezieht sich auf die Förderung eines entrepreneurial Mindset unter Schülern und Studenten, auch die Bereitstellung eines Nährbodens für die Entwicklung eines solchen Unternehmergeistes.

Es beginnt in der Schule – als Beispiel werden die „Entrepreneurship Wochen“ in Österreich genannt. Darunter fallen auch Kampagnen wie etwa der kostenlose Onlinekurs Elements of AI, der in Finnland die Bevölkerung auf das Digitale Zeitalter vorbereitet, die Berührungsängste mit Zukunftstechnologien nimmt und Neugier weckt. Es geht auch um Unterstützungsangebot von Universitäten für Unternehmensgründungen, Förderung von Gründungen durch Frauen und die Bereitstellung von Kreativräumen/MakerSpaces, wo sich Jungunternehmer ausprobieren können.

Ausrichtung gesamter Ökosysteme auf Start-Up Förderung

Um förderliche Rahmenbedingungen für Start-Ups zu schaffen, genügt es nicht, eine Antragsstelle für die Erstfinanzierung in einer Behörde zu schaffen. Das gesamte Ökosystem bestehend aus etablierten Unternehmen, öffentlicher Beschaffung und Finanzierungsoptionen sollte im Hinblick auf Start-Ups verbessert werden.

Beispiel Öffentliche Beschaffung: ”Public procurement represents 18% of European GDP [sic! – Anm. d. Red.]. It has to be ensured that this important source of money is also used to purchase goods and services from startups based in the EU, so as to help the EU startup ecosystem thrive. Ideally, state-owned companies should be included in this approach.”

Beispiel Zusammenarbeit mit bestehenden Unternehmen: Etablierte Unternehmen sind als Kunden und potenzielle Käufer ganzer Unternehmen wichtig für Start-ups. Aber in der Praxis kommt diese Zusammenarbeit noch selten vor. Vergleiche dazu auch den Blogpost: Zusammenarbeit mit StartUps als strategische Option für Digitale Transformation: Worauf Sie achten müssen

Das Finanzierungskapital ist wiederum ein vieldiskutierter Aspekt (bzw. Schwachpunkt) der europäischen Start-Up Szene. „Wir werden bei den Fondsgrößen nachlegen müssen“, sagt Christian Miele, im Hauptberuf Investor bei der Berliner Wagniskapitalfirma Headline. Im Sinne der Wettbewerbsfähigkeit gehe es darum, „in der Lage zu sein, auch große Runden in der Wachstumsphase und in der Spätphase anzuführen“. Der Action Plan beziffert den Gap zum Start-Up Ökosystem in den USA: “Risk capital invested in North America is approximately five times larger than the level of investment in Europe.”

Pan-Europäische steuerliche und regulatorische Verbesserungen

Bereits der vorgenannte Themenblock des Action Plans fordert eine europäische Harmonisierung von steuerlichen und regulatorischen Hürden für Investoren, um grenzüberschreitende Finanzierung für Investoren zu vereinfachen. Der vierte Themenblock benennt weitere Forderungen zu steuerlichen und regulatorischen Verbesserungen.

Beispiel Anteilsoptionen (ESOP – Employee Stock Options): Solche Optionen werden gegenwärtig in vielen europäischen Ländern als Einkommen besteuert und lösen unmittelbar Steuerzahlungen aus; eine Besteuerung über die Kapitalertragssteuer würde dieses Instrument in der Praxis attraktiver machen.

Beispiel Pan-Europäisches StartUp Visum: 25% der Arbeitgeber in Europa beklagen Fachkräftemangel. Als Antwort hierauf die Idee des Actions Plans: “In order to turn Europe into the easiest place for highly skilled talent to start a company and get a job, a pan-European Startup Visa should be rolled out. This could be moulded on existing examples at national level, such as the French Tech Ticket.”

Und sonst? Weitere Erfolgsfaktoren für die europäische Start-Up Kultur

Der Action Plan setzt einen Fokus auf die vier skizzierten Themengebiete – vielleicht auch aus pragmatischen Überlegungen zur kurz- bis mittelfristigen Realisierbarkeit. Einige typische Klagen aus der deutschen Start-Up Szene finden sich hier ebenfalls nicht wieder, da es sich hier um die Schnittmenge von Forderungen aus einer gesamteuropäischen Perspektive handelt; einige Probleme der deutschen Start-Up Szene scheinen folglich eher nationaler Natur zu sein. Im Sinne einer Vollständigkeit will ich aber noch ein paar wenige Punkte ergänzen – die aus der hiesigen Diskussion zum Wirtschaftsstandort Deutschland (auch euch: Europa) bekannt sein dürften.

Stichwort Europäischer Binnenmarkt: In vielen Bereichen – und vor allem: im Detail – existiert ein Binnenmarkt im Sinne eines „einheitlichen Marktes“ hinsichtlich Regulatorik, Besteuerung und Ähnlichem de facto nicht. Die Skalierungsdynamik von Start-Ups bricht sich darum häufig an der Grenze zum nächsten (europäischen) Nachbarstaat. Und nicht zuletzt wettbewerbsrechtliche Rahmenbedingungen führen zu einer Zersplitterung der Unternehmenslandschaft – so sieht das etwa Telekom-CEO Timotheus Höttges: Auf einem Vortrag auf der Veranstaltung hub.berlin erklärt er: Es gebe in Europa etwa 120 Telekomunternehmen, in China und den USA jeweils weniger als 10. Und die 5 größten Telekomanbieter Europas erreichten noch nicht einmal die Größe des größten US-Players. Es kommt hinzu, dass die Bandbreiten in Europa nicht harmonisiert sind. Der Vortrag von Herrn Höttges ist ein Warnruf. Sein Fazit: „Nobody is thinking big.“

Stichwort Bürokratie: Der Start-Up Coach Dr. Johanna Braun weist darauf hin, dass Start-Up Gründer vielfach “Sprachbarriere und Komplexität der Regulierung in Deutschland als Hürden“ bezeichneten. Und der Chef der Drogeriekette Rossmann ging jüngst angesichts wachsender Regulatorik so weit zu formulieren: „Wir müssen aufpassen, dass unsere Firmen nicht Anwaltskanzleien mit angeschlossenem Handelsbetrieb werden.“. Und abschließend noch die Stimme von Start-Up Gründer Karsten Neugebauer: Auf der Veranstaltung „Digitalpolitische Agenda 2030“ weist er mahnend darauf hin, dass Entscheidungsprozesse in Politik und Behörden schlicht zu langsam seien.

„Jede Erfolgsstory ist eine Geschichte ständiger Anpassung, Überarbeitung und Veränderung. Unternehmen im Stillstand sind schon bald vergessen“Richard Branson, Gründer der Virgin Group

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Der Autor ist Manager in der Softwareindustrie mit internationaler Expertise: Prokurist bei einem der großen Beratungshäuser - Verantwortung für den Aufbau eines IT Entwicklungszentrums am Offshore-Standort Bangalore - Director M&A bei einem Softwarehaus in Berlin.