Wie verändert die Digitale Transformation eigentlich den Gesundheitssektor? Welche digitalen Angebote, welche digitalen Geschäftsmodelle gibt es oder werden diskutiert? Der nachfolgende Artikel gibt einen Überblick, mit einer schwerpunktmäßigen Betrachtung des deutschen Marktes. Dabei starten wir mit jenen Digitalen Angeboten, die beim „Endkunden“ selbst ansetzen: Also beim Patienten oder auch beim Gesunden, der etwa Interesse an präventiven Maßnahmen oder Monitoring von Vitalparametern hat. Hiernach werfen wir einen Blick auf jene Digitale Geschäftsmodelle und digitale Disruptionen, die sich als B2B klassifizieren lassen und etwa Krankenhäuser, Versicherungen, Pharmahersteller betreffen.

Informationsbeschaffung und Transparenz über Gesundheitsangebote

Schon während der ersten Digitalisierungswelle (Aufbau des Internet, ca. 1985 bis 1999) und der zweiten Digitalisierungswelle (Aufkommen der Big Player wie Google, Facebook, ca. 2000 bis 2015) etablierte sich das Internet als wichtigster Gesundheitsratgeber: Von Gesundheitstipps bis zu Hausmitteln, von Beschreibung von Krankheitsbildern bis zu speziellen Foren für spezifische Krankheitsbilder, von Erklärvideos auf YouTube bis zu Ernährungstipps finden Interessierte im Internet fast alles.

Natürlich, diese Informationsangebote sind keineswegs geprüft, die Datenquellen reichen von Robert Koch Institut bis zu Hobby-Therapeut. Das lässt sich mit Medienkompetenz bzw. mit einer kritischen Bewertung von Datenquellen kompensieren; dann gilt, dass die Verfügbarkeit von Informationen massiv gestiegen ist. Umgekehrt wird auch ein Schuh daraus: Frühe digitale Angebote haben mittels Bewertungsplattformen eben Transparenz über die Qualität von Leistungsträgern im Gesundheitsmarkt herstellen wollen, etwa Jameda oder auch die Weisse Liste (ein Angebot der Bertelsmann-Stiftung).

All die Suchanfragen auf Suchmaschinen erlauben dem (unangefochtenen) Marktführer für Suchmaschinen Google übrigens, „Heatmaps“ für Krankheiten bzw. vielmehr Verdachtsfälle auf Krankheiten zu erkennen. Vor einiger Zeit hatte Google durchaus einmal die Vision formuliert, auf diese Weise Pandemien frühzeitig erkennen und so Notfallmaßnahmen anstoßen zu können; tatsächlich ist Google dem Meldewesen an Gesundheitsämter (Meldepflicht gilt etwa für Krankheiten wie Masern, Mumps, Diphterie, etc.) hier zeitlich voraus, nicht zuletzt aufgrund der behördlichen Trägheit einer Institution wie dem Gesundheitsamt.

Monitoring, Erstdiagnose, Therapiebegleitung

Wussten Sie übrigens auch, dass Apple inzwischen der größte Uhrenhersteller der Welt ist? Das ist allerdings zu relativieren, denn die Käufer der Apple Watch sind gar nicht so sehr an der Zeitanzeige interessiert, sondern vielmehr am Schrittzähler, Pulsmesser oder die Information, wie lange man gestanden hat. Ein anderes Beispiel ist das StartUp KENKOU (Freemium-Version erhältlich), die APP etwa misst den Stresslevel mithilfe der Smartphone-Kamera, und zwar in nur einer Minute (ich habe das ausprobiert, funktioniert). Es geht hier um Selbstmonitoring, nicht zuletzt mit dem Ziel der Selbstoptimierung oder der Gesundheitsprävention und derlei mehr. Die meisten Monitoring-Angebote sind heute nicht-invasiv (Apple Watch, Fitnesstracker, etc.), aber es gibt auch invasive Varianten (z.B. implantierbare Mikrosensoren, etwa für Diabetiker).

Bei vielen der Digitalen Angebote ist das Monitoring nur eine Komponente; das Monitoring fließt in eine Erstdiagnose, und vielfach werden auch therapeutische Angebote gemacht (wenn auch nicht als vollständigen Ersatz für eine ärztliche Behandlung). Die App Kenkou misst also nicht nur den Stresslevel, sondern offeriert auch Methoden zur Stressreduktion. Moodpath ist eine APP, die Betroffene bei Depression, Burnout und Stress begleitet. Die von Psychologen entwickelte Anwendung liefert eine (erste) Einschätzung zum Befinden, bietet die Funktion eines Stimmungstagebuch und liefert über 150 psychologische Übungen (aus der Verhaltenstherapie) zur Verbesserung des emotionalen Wohlbefindens. Apps wie Woebot (Gründung von Stanford-University-Wissenschaftlern) haben eine vergleichbare Zielgruppe, setzen aber auch die Chatbot-Technologie: die App wird zum Gesprächspartner für Betroffene von Depression und Angstzuständen. Betroffene berichten, dass es wirkt. Da besonders Menschen mit Depression Schwierigkeiten haben, mit anderen zu sprechen, ist die Hürde zum Austausch mit Chatbots geringer und verschaffen Chatbots sogar einen Vorteil.

Gut zu wissen: Das Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG) sieht vor, dass Ärzte ab 2020 Gesundheits-Apps verschreiben können. Dafür kommen etwa Apps in Frage, die beim Umgang mit Tinnitus helfen, die bei Depressionen helfen, digitale Tagebücher für Diabetiker und derlei mehr. Eine Kostenübernahme ist unter bestimmten Bedingungen möglich, etwa einer Prüfung der App durch das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (Prüfkriterien: Datensicherheit, Datenschutz, Funktionalität).

Telemedizin, das eRezept und Online Apotheken

Bis das Prinzip „eCommerce“ (Amazon startete sein Angebot in Deutschland im Jahr 1998) im Apothekenbereich ankam, sollte es eine Weile dauern: Die (lange umstrittene) Online-Apotheke DocMorris wurde im Jahr 2000 gegründet, operierte zunächst vom Ausland aus. Ab Januar 2004 ist der Versand rezeptpflichtiger Medikamente auch in Deutschland zulässig, aber es gilt: Die Einreichung von Arzneimittelrezepten ist in Deutschland allerdings nach wie vor schriftlich erforderlich, dies wird sich erst mit der Einführung des E-Rezepts ändern. Während bereits über ein Dutzend europäischer Länder das E-Rezept eingeführt haben (z.B. UK, Schweiz, Spanien, Rumänien) wird dies in Deutschland voraussichtlich im Jahr 2021 in der Praxis ankommen.

Auch im Bereich Telemedizin ist Deutschland Nachzügler. Die ausschließliche Beratung per Video sowie die Verschreibung von Arzneimittelrezepten ist erst seit Kurzem möglich (Lockerung des Verbots der ausschließlichen Fernbehandlung in einem Votum des Ärztetages in 2018). Ein Pionier in Deutschland war das Unternehmen Teleclinic, seit Ende 2019 ist ein schlagkräftiger Konkurrent aus Schweden hinzugekommen: Kry, der insbesondere durch eine Kooperation mit DocMorris strategisch gut aufgestellt ist.

Gehen wir noch einen Schritt weiter: Von der Telemedizin zur Telechirurgie. Bereits im Jahr 2001 (nämlich am 07. September) wurde medienwirksam die erste Tele-Operation durchgeführt, nämlich die Entfernung einer Gallenblase. Die Patientin lag auf einem OP-Tisch in Straßburg, der Operateur (Jacques Marescaux) führt das Skalpell virtuell von New York aus. Profitieren könnten hiervon etwa Astronauten oder auch der ländliche Raum.

Gematik, Elektronische Patientenakte

Eine weitere entscheidende Veränderung im Health-Sektor wird durch die Einführung der Elektronische Patientenakte bzw. Elektronischen Gesundheitsakte erzielt. Diese wird von Krankenkassen ab Januar 2021 angeboten, wobei die Nutzung bzw. Datenhoheit beim Patienten selbst liegt. Auf dieser Gesundheitsakte können sämtliche Daten und Informationen zur Behandlungs- und Diagnosehistorie eines Patienten abgelegt werden, Medikamente, Allergien und auch Notfalldaten.

Sofern der Patient (einzelne oder sämtliche) Gesundheitsdaten für einen behandelnden Arzt freigibt, kann dieser Arzt (oder Heilpraktiker) diese Daten über die sogenannte Telematikinfrastruktur (TI) abrufen. Dabei handelt es sich um ein geschlossenes Netz, das Ärzte, Heilpraktiker, Krankenhäuser, Zahnärzte miteinander verbindet. Die TI unterliegt besonders hohen Sicherheitsanforderungen, die durch das BSI vorgegeben wurden.

In einem ca. einstündigen Interview auf t3n erläutert Jochen Werner, Ärztlicher Direktor und Vorstandsvorsitzender am Universitätsklinikum Essen, wie sich der Transformationsprozess für zum „Smart Hospital“ gestaltet, der im Jahr 2015 gestartet wurde: Was sind die Herausforderungen? Wie sind die Erfahrungen beim Einsatz von Künstlicher Intelligenz für die Diagnose, wie hoch ist die Akzeptanz bei der Nutzung von Patientendaten für Forschungszwecke? Wie schätzt Herr Werner die Erfolgschancen von IBM Watson im Gesundheitsbereich ein? Hier geht’s zum PODCAST: Smart Hospital

Diagnoseunterstützung mit Künstlicher Intelligenz und Big Data

Die Telematikinfrastruktur (TI) ist aber auch nur ein einzelnes Puzzleteil bei einer systematischeren Nutzung von Daten. Die elektronische Patientenakte wird zunächst einmal nur die für einen Patienten relevanten Daten konsolidieren, mehr nicht. Aber natürlich gibt es bereits weitergehende Konzepte für eine kluge Nutzung von Daten. Ein Beispiel ist das Projekt KIKS (Künstliche Intelligenz für klinische Studien). Dabei handelt es sich um ein digitales Ökosystem, um einerseits Dokumentationspflichten mit weniger Aufwand nachkommen zu können (qua EU-Verordnung: Bewertung von Medizinprodukten) und andererseits klinische Daten gemeinschaftlich nutzen zu können. Ein Konsortium (u.a. B.Braun, Universitätsklinik Leipzig, Universitätsklinik Jena) treibt die Entwicklung voran, der Geschäftsführer Frank Trautwein von einem der Konsortiumsmitglieder erklärt: „Es soll Funktionen zum anonymisierten Datenaustausch bieten, relevante Daten in Fließtexten verstehen oder radiologische Bilder vollautomatisch analysieren.“

Apropos Analyse von radiologischen Bildern: Hierfür eignet sich die Mustererkennung durch KI sehr gut. Die Tochtergesellschaft Healthineers der Siemens-Gruppe hat etwa das Programm „AI-Rad Companion Chest CT“ auf den Markt gebracht: Es kann auf CT-Aufnahmen Rundherde in der Lunge markieren oder die Aorta vermessen.

Eine Vision für den Gesundheitsmarkt besteht ebenfalls darin, dass Künstliche Intelligenz (in Verbindung mit Big Data) Ärzte bei der Diagnosestellung unterstützt: Eine „Suchmaschine“ gleicht das Symptombild eines Patienten mit Krankheitsdiagnosen in einer umfassenden Datenbank ab und unterbreitet dem untersuchenden Arzt Vorschläge. Diese Idee lässt sich einfach formulieren, ist aber keineswegs einfach umzusetzen: Die Anwendung der KI Watson von IBM im Krankenhaussektor ist zumindest im ersten Anlauf gescheitert.

Dennoch wird damit gerechnet, dass der Markt für KI im Gesundheitswesen massiv steigen wird. Die Researchfirma MarketsandMarkets geht davon aus, dass sich dieser Markt von ca. 2 Mr. US-Dollar in 2018 auf 36 Mrd. US-Dollar in 2025 vervielfacht.

[Exkurs] Im Zusammenhang mit dem Einsatz von Künstlicher Intelligenz in der Diagnostik stellt sich das sogenannte Black-Box Problem. Hierzu folgendes Beispiel:

Forscher an der New Yorker Ichan School of Medicine entwickelten einen KI-Algorithmus zur Krebsvorhersage, den sie mit umfangreichen Daten von etwa 700.000 Patienten trainieren konnten. Die Datensätze enthielten je Hunderte von verschiedenen Variablen. Der KI-Algorithmus wurde bezeichnet als „Deep Patient“. Tatsächlich identifiziert „Deep Patient“ zahlreiche neue Muster in den Daten, die die Forscher nicht immer nachvollziehen konnte, die aber praktikable Indikatoren bildeten, um Patienten im frühesten Stadium vieler Krankheiten zu finden (z.B. für Leberkrebs).

Mysteriöserweise konnte „Deep Patient“ auch Indikatoren von psychiatrischen Störungen wie Schizophrenie liefern. Aber selbst die Forscher, die das System gebaut haben, wussten nicht, wie der KI-Algorithmus Entscheidungen trifft („Black Box Problem“). „Deep Patient“ macht also kluge Vorhersagen, aber ohne jegliche Erklärungen. Was bedeutet das für den Einsatz in der Praxis, wie kann ein solches System von medizinischen Teams eingesetzt werden, das konkrete Entscheidungen treffen muss mit weitreichenden Konsequenzen: Entscheidungen über das Absetzen oder Wechseln von Medikamenten? Entscheidungen über die Verabreichung von Strahlen- oder Chemotherapie oder eine Operation? [/Exkurs]

Optimierung von Administration, Prozessen, Terminplanung

Wer sich den Arbeitsalltag in Krankenhäusern und Arztpraxen ansieht, dem dürfte auffallen: Es gibt ja nicht nur Optimierungspotential bei den eigentlichen medizinischen Aufgaben wie Anamnese, Diagnose, Therapie oder chirurgische Eingriffe. Der Alltag im Krankenhaus und in der Arztpraxis wird auch zu einem großen Teil bestimmt von Dokumentation, Terminplanung, Überweisungsmanagement und derlei mehr. Hier liegt die Anwendung bewährter Technologien nahe.

Unternehmen wie Doctolib bieten Lösungen für die Terminplanung und das Terminmanagement bei reduziertem administrativem Aufwand. Unternehmen wie Nuance bieten wiederum Lösungen für einfache Dokumentation qua Spracherkennung. Relevante Angaben wie Symptome, Vitalparameter, Vorgeschichte oder Diagnose und Therapie lassen sich einfach diktieren und in die elektronische Patientenakte übernehmen. Auf deren Webseite werden die Effizienzgewinne quantifiziert: “Eine Vergleichsstudie der Universitätsklinik Düsseldorf liefert dazu aussagekräftige Ergebnisse: Spracherkennung beschleunigt die Dokumentation um 26%, die Zufriedenheit der Ärzte steigt um 23% und es wurden 82% mehr Daten erfasst.“. Das deckt sich mit anderen Studien, die die Zeitersparnis bei Ärzten auf etwa 20 Prozent beziffern, bei Pflegepersonal auf ca. 40 Prozent. Gerade angesichts des Fachkräftemangels im Pflegebereich eine sinnvolle Investition.

Author

Der Autor ist Manager in der Softwareindustrie mit internationaler Expertise: Prokurist bei einem der großen Beratungshäuser - Verantwortung für den Aufbau eines IT Entwicklungszentrums am Offshore-Standort Bangalore - Director M&A bei einem Softwarehaus in Berlin.