Gastbeitrag von Dr. Holger Thiel, promovierter Philosoph und zertifizierter Digitalethiker

Firmen und Unternehmen betrachten die Digitalisierung als eine wirkmächtige Technologie, die ihnen vielversprechende Innovationspotentiale und Produktivitätsgewinne verheißt. Und sehen das sicherlich richtig. Sehen aber auch Manches nicht. Was einem machbarkeits- und optimierungsbeseelten Blick auf KI&Co verborgen bleibt, sind Sinn und Werte, die über den betriebswirtschaftlichen Nutzen hinausgehen. Dieser blinde Fleck bedeutet nicht nur eine Verkennung des Digitalisierungsphänomens, sondern übersieht auch Gefahren für das Unternehmen selbst. Denn jede Digitalisierungsstrategie kann an mangelnder Akzeptanz der Mitarbeitenden scheitern, deren Arbeitsalltag durch mehr und andere Werte als reine Effizienz bestimmt wird. KI und digitalen Anwendungen sind aber für alle Wert-voll, wenn man in einem umfassenden Sinne vernünftig zu Werke geht.

Als Beispiel für eine einseitig effizienzbasierte Perspektive auf unternehmerische Digitalisierungsprozesse sei die Ausgabe des Harvard Business Managers vom Mai 2023 genannt. Erschienen also einen guten Monat, nachdem das Future of Life Institute ein Moratorium für die KI-Entwicklung forderte, um deren potentielle Risiken durch Entwicklungskorrekturen hin zu mehr Sicherheit und Transparenz zu minimieren. Von diesem umsichtigen Blick auf die digitale Zukunft ist auf den Seiten des Magazin-Special zu der Frage “Wie künstliche Intelligenz die Arbeitswelt verändert“ wenig zu erkennen. Der Standpunkt von Firmen und Unternehmen zeichnet sich durch einen freudig erregten Blick auf die Segnungen der künstlichen Maschinen-Intelligenz in der Arbeitswelt aus. Hier wird eher vor den Warnungen gewarnt und im Namen „großartiger Chancen“ die Strategie verfolgt, „die gängigsten Argumente von Skeptikern zu entkräften“.

Mit zuvor unvorstellbarer Geschwindigkeit und Präzision könnten Unmengen von Bestellungen gleichzeitig bearbeitet werden, heißt es; Mitarbeitende seien lediglich für die Steuerung der digitalen Maschinen notwendig. Die Zusammenarbeit von Mensch und Maschine sei überdies längst Gegenwart und ein entscheidender Wettbewerbsvorteil hochinnovativer Unternehmen. Produktionsabläufe ließen sich schneller und mit weniger Personalaufwand bewerkstelligen, Qualität würde effizienter gesichert und Abrechnungen automatisiert erstellt. Probleme werden wenn, dann nur in Gestalt von Implementierungskomplikationen und Datenfluss-Barrieren thematisiert. Hier sei auf die richtige Auswahl KI-fähiger Projekte zu achten und der systemische Komplexitätsanstieg im Unternehmen durch effizienzsteigernde KI-Anwendungen zu bedenken. Bebildert ist die Artikelfolge zudem ausnahmslos durch beeindruckende Erzeugnisse von KI-Kunst a la Midjourney &Co.

Nun ist gegen einen KI-beseelten optimistischen Blick in die ökonomische Zukunft nichts einzuwenden und deren effizienzsteigernde Potentiale unbestritten. Die Wirtschaft macht es sich dabei allerdings auf der frohlockenden Seite des Digitalisierungs-Diskurses bequem, der wesentlich durch bedachtere Sichtweisen und vor allem digitalethische Aspekte mitbestimmt wird. Um Unternehmen tatsächlich erfolgreich durchdigitalisieren zu können, empfiehlt sich eine ganzheitlichere Perspektive auf künstliche Intelligenz. Denn entgegen der machbarkeitsorientierten Sichtweise mancher Manager sorgen sich umsichtigere Charaktere bei flächendeckender KI-Anwendung in Unternehmen um ihre Privatsphäre, wenn nicht nur die Arbeitszeiten der Mitarbeitenden transparent erfasst und abgerechnet, sondern diese selbst klandestin überwacht werden können. Oder die alte analoge Intelligenz befürchtet, der neuen digitalen weichen zu müssen, da ChatGPT Texte für den Alltagsgebrauch schneller und kostensparender in die Magazine und damit JournalistInnen vor die Tür setzen lässt.Um zu verdeutlichen, warum man mit dieser einseitig fortschrittsgläubigen Sichtweise weder dem Phänomen der Digitalisierung noch einer erfolgreichen unternehmerischen Digitalisierungsstrategie gerecht wird, hilft ein Ausflug in die Philosophie.

Wenn man handelt, unternehmerisch oder anders, bietet sich der Gebrauch der Vernunft an. Nun kann zwischen zwei Arten der Vernunft unterschieden werden, instrumentell und praktisch. Diese beiden Arten, über etwas nachzudenken oder Handlungen zu begründen, haben wesentlich mit dem Begriffen Mittel und Zweck zu tun. Instrumentelle Vernunft, zum Beispiel nach Horkheimer, befähigt dazu, gesetzte Zwecke mit den angemessen und geeigneten Mitteln zu erreichen (vgl. „Zur Kritik der instrumentellen Vernunft“). Praktische Vernunft, zum Beispiel nach Kant, beschäftigt sich hingegen mit dem Setzen der Zwecke, die dann durch die Mittel mithilfe der instrumentellen Vernunft verwirklicht werden sollen (vgl. „Kritik der praktischen Vernunft“). Wenn digitaleuphorisierte Manager das Ziel haben, ihrem Unternehmen durch KI möglichst schnell Produktivitätssteigerungen zu bescheren, setzen sie ihre instrumentelle Vernunft ein. Die praktische Vernunft hingegen würde fragen, ob es im Zusammenhang mit digitalen Anwendungen noch andere Ziele zu berücksichtigen gibt. Instrumentelle Vernunft sagt, was man tun kann; praktische Vernunft, was man tun soll. Letztere hat also wesentlich mit moralischen Werten zu tun, welche die Setzung von Zwecken und Zielen bestimmen.

Vor diesem philosophischen Hintergrund wird deutlich, wes Geistes Kind das unternehmerische Handeln in digitalen Zeiten mitunter zu sein scheint. Wenn von großartigen Chancen der KI geschwärmt wird, dann ist die instrumentelle Vernunft am Werk und betrachtet die KI als geeignetes Mittel, um unternehmerische Zwecke wie Effizienz- und Gewinnmaximierung zu verwirklichen. Die praktische Vernunft würde sich darüber hinaus den Zweck des guten Arbeitens setzen und fragen, ob KI diesen nicht durch Arbeitsverdichtung konterkariert. In dieser Weise vernünftig denken die Autoren des HBM Specials aber selten. Als Beispiel einer wertevergessenen Sichtweise auf Digitalisierung wird im Artikel „Ziemlich beste Freunde“ unter anderem die „Demokratisierung von Daten“ als Voraussetzung für eine solide und operationalisierbare Datenbasis im Unternehmen empfohlen. Unter Demokratisierung wiederum wird die Möglichkeit verstanden, „mehr Menschen mehr Daten an die Hand“ zu geben, und letztere „kurzfristig zugänglich und leicht nutzbar“ zu machen. Das ist instrumentelle Vernunft, wie sie im Buche steht. Sicherlich sind frei und schnell zugängliche Daten ein probates Mittel zum Zwecke der optimalen Datennutzung. Doch Letzteres als Demokratisierung zu bezeichnen spricht dem Begriff Hohn, weil an ihm die praktischen Vernunft und also moralische Prinzipien wie Freiheit, Gleichheit und Mitbestimmung ignoriert werden, ohne die man von Demokratie nicht sprechen kann. Und das sollte in kleinem Maßstab auch für Unternehmen gelten.

Das ist zu viel abstrakte Philosophie und lässt konkrete betriebswirtschaftliche Anschlussfähigkeit vermissen? Simon Sineks goldener Kreis lässt sich philosophisch übersetzen. Die von ihm als erfolgsversprechend ausgewiesene Warum-Ebene eines Unternehmens verdeutlicht in Teilen die praktische Vernunft. Natürlich geht es Firmen um Gewinnmaximierung als Ziel, aber hier spielen auch motivationale Beweggründe und die Wert-Ebene hinein. Gründungen im Bereich Gesundheit beispielsweise bezwecken idealerweise in erster Linie nicht sprudelnde Einnahmen, sondern die Gesundheit ihrer Kunden. Erst dann erfolgen Zweck-Mittel-Erwägungen der How-Ebene, also wie man die gesetzten Ziele erreicht. Die Kombination aus wertvollen Zwecken und den Mitteln zu ihrer Verwirklichung münden in den praktischen Handlungen, Leistungen und Produkten von Unternehmen und der entsprechenden What-Ebene.

Was also die instrumentelle Vernunft von der praktischen unterscheidet, ist das Denken in und mit Werten. Womit man bei einem weiteren wesentlichen Aspekt der Digitalisierungsdebatte ist, den das digitalisierungswillige Unternehmertum bisher unberücksichtigt zu lassen scheint: Digitalethik. Denn durch die Achtung von Werten bei der Begründung von Handlungen erzielt die Digitalethik das, was in ihrem Namen eingeschrieben ist: das gute digitale Leben und Arbeiten. Praktisch vernünftiges unternehmerisches Handeln bedeutet dann nicht nur, die adäquaten Mittel für rein betriebswirtschaftliche Zwecke anzuwenden, sondern letztere mit Werten wie Autonomie, Menschlichkeit, Privatheit, Transparenz, Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit, Verantwortung ins Verhältnis zu setzen. Für das oben genannte Demokratisierungs-Beispiel bedeutet eine digitalethische Haltung, Demokratisierung von Daten nicht nur moralisch verkümmert als breite Datenzugänglichkeit zu verstehen, sondern Werte wie Datenschutz, Privatheit und Transparenz zu berücksichtigen.

Digitalethik ist nicht nur eine Kopfgeburt von Philosophen, die sich zu viel mit Computern beschäftigt haben, sondern trägt im Gegensatz zu einem einseitig machbarkeitsbeseelten Blick auf KI zu einer tatsächlich erfolgreichen Digitalisierung von Unternehmen bei. Denn durch die Achtung von Werten holt man auch die betriebsinternen Bedenkenträger an Bord. In jeder Firma werden sich Mitarbeitende finden, welche die euphorische Sicht ihrer Vorgesetzten bei der Implementierung von KI nicht teilen. Und das meist aus guten Gründen, beziehungsweise Werten. Diese Menschen sind keine eingebildeten Skeptiker, sondern sorgen sich zurecht um die tatsächliche Verletzung von Privatheit, menschlicher Nähe, Solidarität, gesundem Arbeiten, Erhaltung des Arbeitsplatzes oder mit- und Selbstbestimmung.

Durch eine die technische Implementierung von KI flankierende digitalethische Perspektive werden die Mitarbeitenden in einem wertebasierten unternehmensinternen Diskurs zu ernstgenommenen und ernstmeinenden Teilhabenden. Dadurch verringern sich widerständige Impulse, steigt die Akzeptanz und gelingt gutes digitales Arbeiten.

Unternehmen profitieren also tatsächlich von der Digitalisierung. Mit Vernunft. Mit Werten.

Der Autor Dr. Holger Thiel ist promovierter Philosoph und zertifizierter Digitalethiker. In Beratungen und Vorträgen wirbt er für eine ausgewogene Perspektive auf die digitale Technik, die den Menschen nicht aus den Augen verliert.

Mehr unter: www.holgerthiel.net

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  • Author

    Der Autor ist Manager in der Softwareindustrie mit internationaler Expertise: Prokurist bei einem der großen Beratungshäuser - Verantwortung für den Aufbau eines IT Entwicklungszentrums am Offshore-Standort Bangalore - Director M&A bei einem Softwarehaus in Berlin.