Kürzlich stieß ich in der Neue Zürcher Zeitung auf eine Kolumne zu Digitalisierung, die in Teilen amüsant zu lesen war, in Teilen ein merkwürdiges Verhältnis zur Digitalen Moderne erkennen lässt. Bisweilen liest sich die Kolumne wie der Bericht eines Patienten, der nach 30 Jahren Koma in einer Welt wach geworden ist, wo Bahntickets nicht mehr zwingend in Papier, sondern eben auch digital möglich sind.

Die Kolumne Wie ich ein Smartphone kaufte und zu verstehen begann, was mich von den unter Dreissigjährigen unterscheidet stammt von Hans Ulrich Gumbrecht, Philosoph und Kolumnist. Er bezeichnet sich als als “ wir Alten“. Mit selbstironischem Augenzwinkern inszeniert er sich als Liebhaber seiner Retro-Rituale, wenn er erzählt von seinem “mit Tesafilm zusammengehaltenen Wecker, den ich auf Reisen mitnehme, die vierzig Jahre alte IWC-Armbanduhr («Porsche Design»), deren Zeiger ich nach Europaflügen stets neun Stunden in die Zukunft drehe“. Das ist sympathisch, auch Grammophone sind als Retro-Mode wieder en vogue. Aber als Vorbild taugt der Kolumnist nicht unbedingt, denn er macht nicht klar, dass das Digitale seinen berechtigten Platz hat – und bisweilen zu Recht die alte Papierwelt verdrängt.

Technologien haben über die gesamte Geschichte der Zivilisation hinweg das Privat- und Berufsleben durchdrungen. Das Automobil und das Telefon waren ab einem bestimmten Zeitpunkt selbstverständlich; auch bestimmte Kompetenzen wurden unabdingbar, Lesen und Schreiben etwa. Moderne Industriegesellschaften basieren auf solchen „Standards“ in punkto Basistechnologien und Basiskompetenzen. Wer diesen Standards nicht folgt oder nicht folgen will, dem wird die soziale Teilhabe nicht vollständig verweigert; aber das ist dann mit Reibungen verbunden. Kein Wunder also, wenn der Kolumnist über die Bewältigung des Digitalen Alltags schreibt:

“ Ernster wurden die Probleme bei Grenzübergängen in Corona-Zeiten. Ein spanischer Beamter bestand darauf, die elektronische Version meiner Impfbescheinigung zu sehen (keine Begründung, warum das Papierformular nicht ausreichte), und für das zur Rückkehr in die Vereinigten Staaten notwendige negative Testergebnis standen im Frankfurter Flughafen keine Drucker zur Verfügung, so dass ich auf einen Minibildschirm angewiesen war. Ohne Fragen und ohne Warnung haben unsere Gesellschaften ihren Wirklichkeitsstatus an elektronische Medien gebunden. Wer nicht über sie verfügt, ist vom Alltagsleben ausgeschlossen.“

Damit wir uns nicht falsch verstehen: Es geht bei „Digitalkompetenz“ für die moderne digitale Gesellschaft keineswegs darum, dass sich künftig jede*r einen KI-basierten Bot selbst programmieren kann. Sicherlich nicht. In welchem Maße verschiedene gesellschaftliche Gruppen Digitalkompetenz entwickeln sollten, habe ich vor einiger Zeit in folgendem Blog beschrieben: Digitalkompetenz. WER muss eigentlich WIEVIEL wissen von WAS? Fazit: Wir benötigen alle eine Grundkompetenz zum Digitalen, ebenso wie heute auch jeder ein Telefon bedienen kann.

Der Kolumnist Hans Ulrich Gumbrecht driftet bei seinen Betrachtungen der Digitalen Moderne schlussendlich in dystopische Gedankenspiele ab, als er die Unterhaltung mit einer KI-Spezialistin Revue passieren lässt: Wenn eine in jeder Hinsicht dominante Maschinenintelligenz beschlösse, so hörte ich neulich eine KI-Spezialistin phantasieren, den Planeten Erde von der Menschheit zu befreien (…).“ Ach ja, man kann Digitalisierung mit Hollywood-Katastrophenszenarien à la „Terminator“ (mit Arnold Schwarzenegger) oder „I, robot“ (mit Will Smith) schnell desavouieren. Die Diskussionen zu diesen Szenarien sind müßig, unfruchtbar und münden zwangsläufig in eine Sackgasse. Dabei gibt es eine Reihe hochspannender und zukunftsrelevanter Fragen zum Thema vorbei. Zum Beispiel:

Welche Digitalisierung wollen wir, mit welchen ethischen Leitplanken? Wie sieht der Zukunftsentwurf des „Silicon Valley“ aus, wie passt das zu unserer Zukunftsvorstellung von Gesellschaft (Vergleiche den Blogbeitrag: Zukunftsentwurf des “Silicon Valley”)? Oder: Wo werden bereits heute zukunftsfähige Ideen einer lebenswerten Digitalen Gesellschaft umgesetzt – etwa in Barcelona, wo Francesca Bria ein Smart City Konzept umgesetzt hat, das dezidiert als Gegenmodell zum Oligopol der Big Tech Player gedacht ist? (Vergleiche dazu den Blogbeitrag: Zukunftsentwürfe und Utopien für das 21te Jahrhundert – Teil III). Welche Kompetenzen brauchen wir künftig in der Arbeitswelt 4.0?

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Der Autor ist Manager in der Softwareindustrie mit internationaler Expertise: Prokurist bei einem der großen Beratungshäuser - Verantwortung für den Aufbau eines IT Entwicklungszentrums am Offshore-Standort Bangalore - Director M&A bei einem Softwarehaus in Berlin.