Linie S1 von Hermsdorf über Friedrichstrasse, in Berlin: Eine Sitzgruppe weiter stochert eine Frau mit einer Gabel in ihrer gläsernen Salatschüssel herum; Klick-Klack-Klick-Klack … als sie sich dem Finishing nähert, steigert sich das Klirren in der Glasschüssel zu einem Crescendo und Trommelwirbel. Endlich Schluss, Deckel drauf.

Zu früh gefreut. Das war noch gar nicht der Schlussakt, denn wenig später zückt meine Co-Passagierin das Smartphone und ruft ein Radiologie-Zentrum an. „Ich hätte gerne einen MRT-Termin für den linken Arm.“ Es folgen allerlei Angaben, die – zumindest aus der Perspektive der DSGVO – eigentlich niemanden etwas angehen, vollständiger Name, Adresse, etcetera. Und dann eine sehr, sehr detaillierte Symptombeschreibung … .

Ich weiß nicht, wie Ihnen das geht: Der ÖPNV … oder vielmehr: Vereinzelte Nutzer im ÖPNV nötigen Mitreisenden regelmäßig ein bisweilen übermenschliches Maß an Geduld und Toleranz ab. Immer wieder ein Highlight sind Döner-Partys – und da hat man immer was davon: Das Auge isst ja bekanntlich mit, und bei Genuss in der S-Bahn essen alle anderen auch mit – nicht nur das Auge, die Nase auch, und je nach feinmotorischer Begabung der Döner-To-Go-Fans wird mit Dönerfleisch, Zwiebeln und Knoblauchsoße am Boden auch schon mal ein ganzer U-Bahn-Waggon olfaktorisch zum Döner-Express.

Alles kein Problem; ich bin echt super-tolerant, und damit ich im Gleichgewicht bleibe, lasse ich ab und zu Mal Dampf ab in einer Kolumne. Und außerdem habe ich eh kein Auto, auf das ich ausweichen könnte.

Andere Klassiker sind Headphones, wo Noise Cancellation komischerweise immer nur für den Träger der Headphones funktioniert, nicht für das Umfeld. Oder: Früh-, Spät- und Dauer-Pubertierende, die ihren Müll als Akt der Selbstvergewisserung ostentativ im Abteil entsorgen, auf dem Smartphone läuft das Best Of (also: gar kein Headphone).

Es ist die Stunde der Zivilcourage. Die Berliner Schnauze – gleichermaßen Dialekt und Lebenseinstellung – liefert da eigentlich das richtige Rüstzeug: Schön direkt und schön derb. Und damit kein falscher Eindruck aufkommt: Das ist nicht der gutbürgerliche Blick auf das „gemeine Volk“, Blödsinn! Jüngst musste ich auch einen Passagier im Ruhebereich der 1ten Klasse eines ICE (von Stuttgart nach Berlin) daran erinnern, dass er der Rücksicht halber bei längeren Telefonaten bitte das Abteil verlassen sollte; bis zu dem Zeitpunkt hatte ich bereits so viele Internas zum Unternehmen des Herren, was Stoff für einen ganzen Analystenreport gegeben hätte. Als Chef hätte ich den Herren vermutlich gefeuert, als Datenschutzbeauftragter wäre ich aus dem Fenster gesprungen.

Übrigens, wer austeilt, muss auch einstecken können. Bei einer Zugfahrt vor einigen Monaten bin ich mit einem laufenden ungeplanten Geschäftsanruf auf meinen reservierten Sitzplatz in einem Ruheabteil im ICE gerutscht … und es hat genau 15 Sekunden gedauert, bis mir eine Dame dezent mit Fingerzeig auf das „Ruhebereich“-Schild deutlich gemacht hat, dass ich mich bitte an die Regeln halten möge. Fairer Punkt, ich bin auch stante pede aus dem Abteil gegangen. Ich hätte das umgekehrt ja auch erwartet.

Ich komme im Großen und Ganzen mit den hier beschriebenen Herausforderungen gut zurecht. Aber ich stelle mir natürlich die Frage, wie eine Verkehrswende gelingen soll, wenn nicht ein rücksichtsvolles soziales Miteinander im öffentlichen Nah- und Fernverkehr selbstverständlich wird. Der ein oder die andere, die zärter besaitet sind als ich, meiden dann eben den Zug oder den ÖPNV.

Dass Pünktlichkeit und ein ausreichend eng getaktetes Angebot auch noch nicht zufriedenstellend sind (und offenbar auf absehbare Zeit auch keine echte Besserung in Sicht ist aufgrund tiefgreifender struktureller Defizite), steht auf einem anderen Blatt … .

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    Der Autor ist Manager in der Softwareindustrie mit internationaler Expertise: Prokurist bei einem der großen Beratungshäuser - Verantwortung für den Aufbau eines IT Entwicklungszentrums am Offshore-Standort Bangalore - Director M&A bei einem Softwarehaus in Berlin.