Der Neuburger Gesprächskreis hat am 07. Juni ein hochkarätig besetztes Symposion zum Thema „Incredible India!“ abgehalten. Key Speakers waren etwa der deutsche Botschafter in Indien, Dr. Philipp Ackermann, der indische Botschafter in Deutschland, Harish Parvathaneni; und in einer Live-Schaltung zum ARD-Korrespondenzstudio in Neu-Delhi (mit Frau Charlotte Horn) erhielten die Teilnehmenden Analysen zu den Wahlen in der größten Demokratie der Welt (970 Mio. Wahlberechtigte!), in einer Podiumsdiskussionen wurde Indien zudem als Investitionsstandort aus unternehmerischer Sicht bewertet.

Bei eben dieser Podiumsdiskussion nahme ich als Diskutant teil, nebst Chaitanya Divekar, Partner bei Divekar Wallstabe & Schneider Ltd. (Manufacturing), Martin Wörlein, Partner Rödl & Partner, und schließlich Peter Born, Chief Representative Officer Commerzbank, Mumbai. In der Analyse des Investitionsstandortes stimmten die Diskussionsteilnehmer sehr weitgehend überein. Nachfolgend einige der Key Facts aus der Diskussion, die ich um Information aus einem mehrseitigen Sonderbericht zu Indien aus dem „The Economist“ anreichere (in einer Ausgabe Anfang Mai).

Die erste Frage zielt auf eine Analyse der Treiber für das hohe Wirtschaftswachstum in Indien ab, auch die Frage, welchen Beitrag hierzu die Regierung unter Narendra Modi geleistet hatte.

Teil des erfolgreichen Geschäftsmodells ist nach wie die IT und BPM Industrie, die weiterhin Wachstumsdynamik aufweist. Hinzu gekommen ist in den vergangenen Jahren das indische Geschäftsmodell rund um sogenannte „Global Capability Centers“: Auch hierbei handelt sich es sich um hochwertige und hochproduktive Dienstleistungen, es geht um Forschungs- und Entwicklungsdienstleistungen, Halbleiterdesign, Produktentwicklung. Vor allem global player bauen diese Global Capability Center auf, zu den jüngsten zählen Gründungen von UPS and Roche Pharma. Ebenso wie die IT/BPM Industrie sind Global Capability Center immun gegen Schwachstellen in der indischen Infrastruktur oder Herausforderungen bei der Zollabwicklung, da es sich bei diesem Produkt um „digitale Produkte“ handelt. Einer neuen Studie von Wizmatic zufolge beschäftigen Global Capability Centers rund 3,2 Mio. Beschäftigte, bei einem Umsatz von rund 120 mUSD.

In der Diskussionsrunde bestand zudem Einigkeit, dass die Regierung um Modi die gesteckten Ziele rund um eine Stärkung als Fertigungs-/Produktions-Standorts („Make in India“) die selbstgesteckten Ziele nicht erreichen konnte (nämlich: 25% Anteil am BSP). Indien profitiert aber in (kleinerem) Maße von Verschiebungen in der weltweiten Wertschöpfungsketten, die Alternativen zum Standort China suchen (Stichworte: De-Risiking, China+1). Insbesondere das high-profile Investment von Apple zur Produktion von iPhones in Indien konnte durchaus als Meilenstein verstanden werden, dank Qualitätsverbesserungen bei der Produktion.

Die Regierung Modi verfolgte über eine Vielzahl von Maßnahmen die Standortentwicklung. Umfangreiche Investitionen flossen in die Verbesserung der Infrastruktur, die als notorische Schwachstelle Indien gilt (insbesondere für die Fertigungsindustrie): Es kamen in den vergangenen 10 Jahren rund 150 neue Flughäfen hinzu, das Straßennetzwerk wuchs um satte 60%.

Die Rahmenbedingungen für Unternehmen wurden auch durch teilweise Reformen von Steuern und Bürokratie verbessert. In 2017 wurde die Goods and Service Tax eingeführt, die den Bundesstaaten-übergreifenden Handel deutlich vereinfacht hat und zudem vollständig elektronisch (also: ohne Papier-Bürokratie) abgewickelt wird. Zwei Jahre später, 2019, wurden die Unternehmenssteuern von 35% auf 25% reduziert; insgesamt gilt, dass Unternehmen heute eine ROE (return on equity) aufweisen, der über dem globalen Schnitt liegt. Die Anzahl von Unternehmensgründungen hat sich insgesamt gegenüber dem Referenzjahr 2015 verdreifacht.

Die Reform des Finanzsektors, die bereits mit der Nominierung des neuen Gouverneurs der Reserve Bank of India, Raghuram Rajan, eingeleitet wurde, hat die Regierung Modi fortgesetzt. Die Schwäche des Kapitalmarktes bedeutete in der Praxis: Es gab keine Möglichkeit für normale Menschen zu sparen, die Kapitalkosten für Unternehmen waren hoch; hinzu kamen hohe Inflation und ein wachsendes Problem mit notleidenden Krediten bei staatlichen Banken.

Unter Modi wurde die Zahl der staatlichen Banken von 27 auf 12 reduziert, durch Verschmelzungen. Der Anteil der non-performing loans liegt inzwischen in einem unkritischen Bereich. Die Regeln wurden geändert bzw. liberalisiert, so dass erstmalig eine ausländische Bank – nämlich die Singaporeanische Bank DBS – die Lakshmi Vilas Bank übernehmen konnte, wodurch zum ersten Mal ein Außenstehender über ein großes Filialnetz verfügen konnte. Dies im Jahr 2020.

Das neue, gesündere System hat es ermöglicht, dass Kredite für den Konsum, den Wohnungsbau und die Industrie zur Verfügung stehen. Die privaten Banken haben die Zahl ihrer Filialen seit 2015 um 60 % auf 163.000 erhöht (zum Vergleich: Amerika hat 78.000). Auch die Aktienmärkte boomen und spiegeln den Erfolg der indischen Wirtschaft und die Ausweitung des verfügbaren Kapitals wider. Vor zehn Jahren war die Kapitalisierung des indischen Aktienmarktes kleiner als die Spaniens. Jetzt liegt er Kopf an Kopf mit dem von Hongkong und wird nur noch von dem von Amerika, China und Japan übertroffen.

Trotz des Reformeifers der Modi-Regierung verbleiben Probleme. Auch diese kamen bei der Podiumsdiskussion zur Sprache:

Ein entscheidendes Hindernis für Wachstum sind die geringen und nicht steigenden Ausgaben für Forschung und Entwicklung. Indiens F&E-Ausgaben betragen 0,7% des BIP. In China sind es 2,4 %, in den OECD-Ländern im Durchschnitt 2,7 %.

Trotz Reduzierung des Red Tape schneidet Indien beim Kriterium Ease of Doing Business noch immer vergleichsweise schlecht ab. Aus Perspektive der fertigenden Industrie geht es etwa um restriktive Arbeitsgesetze, und auch den Zugang zu nutzbarem Land. Um ein Beispiel für weiteren Reformbedarf zu nennen: Es gibt einen Rückstau bei Rechtsstreitigkeiten – im Dezember 2023 waren 50 Millionen Fälle bei den Gerichten anhängig. Wer in Indien erfolgreich sein will, braucht das Netzwerk von Personen, die Genehmigungen verschaffen, behördliche Zustimmung organisieren und Ähnliches. Eben dies – mit der lange geltenden Herausforderung zur Kapitalbeschaffung – hat in Indien zu einer überproportionalen Bedeutung von großen Konglomeraten geführt, als da wären: Reliance Industries, Adana-Gruppe, Tats Sons, die Bajaj-Gruppe.

Abschließend sei noch auf Reformbedarf bei der Governance über die verschiedenen Regierungsebenen hinweg hingewiesen: Nur 15 % der Regierungsangestellten arbeiten auf lokaler Ebene: In China und Amerika sind es 60 %. Die Ausgaben der Kommunalverwaltungen belaufen sich auf magere 3 % der Ressourcen, während es in China 50 % sind. Die Probleme der „Unausgewogenheit der Regierungsführung“ sind in den Großstädten akut, wo die gewählten Bürgermeister eine zeremonielle Funktion haben und die Kontrolle bei staatlich ernannten Bürokraten liegt, die weniger auf die lokalen Belange eingehen.

Auch im Bildungsbereich sind diese Herausforderungen in der Governance spürbar: Die Bezahlung der Lehrer ist nicht schlecht, aber die Abwesenheitsrate der Lehrer liegt oft bei 20-30%, was auf eine schlechte Regierungsführung hindeutet. So gerne die Zentralregierung hier Abhilfe schaffen würde, sie kann es nicht; die Maschinerie der Bildung funktioniert auf staatlicher und lokaler Ebene, zu der sie keinen Zugang hat.

FAZIT: Indien hat in den vergangenen 10 Jahren zweifelsohne wichtige Reformen angestoßen und auch umgesetzt; diese Reformdynamik muss allerdings weitergehen, wenn Indien die angestrebte Wachstumsdynamik beibehalten will. Ziel: Indien bis 2047 in den Kreis der entwickelten Länder zu führen, und zwar mit mit einem Pro-Kopf-Einkommen von 14.000 USD (heute: 2.400 USD).

Author

Der Autor ist Manager in der Softwareindustrie mit internationaler Expertise: Prokurist bei einem der großen Beratungshäuser - Verantwortung für den Aufbau eines IT Entwicklungszentrums am Offshore-Standort Bangalore - Director M&A bei einem Softwarehaus in Berlin.