Die digitale Revolution in der Versicherungsbranche: Zahlreiche InsurTech Start-Ups bieten Apps mit einfacher Vertragsverwaltung, Vergleichsportale oder sogenannte „eingebettete Versicherungen“ – Letzteres bezeichnet den Verkauf von Versicherungen im Paket mit anderen Produkten. Aber auch die Digitalisierung und Automatisierung von Prozessen selbst ist Teil der Digitalen Revolution. Ein Anbieter solcher digitaler Prozessoptimierung ist das Start-Up www.claimsforce.com (Gründung 2018).
Das Jungunternehmen erhielt bereits den Ritterschlag der „100 fastest growing Startups in Germany” von GlassDollar. Claimsforce bietet eine Software, mit der Versicherungen Schadensfälle effizient (in Teilen: automatisiert) bearbeitet können: Und zwar von der Zuweisung zu einem Regulierer bis hin zur Begutachtung und Bewertung. Das Automatisierungspotential ergibt sich aus dem datengetriebenen Ansatz (inkl. KI/ML): Die meisten Schadensfälle werden automatisch disponiert (=zugewiesen). Die Regulierer wiederum werden bei Kalkulation und Berichterstellung unterstützt; dabei sorgt die Software für eine nahtlose Abstimmung zwischen Versicherungsnehmern, Vermittlern und weiteren Drittparteien. Insbesondere Kunden werden kontinuierlich über den Bearbeitungsstand auf dem Laufenden gehalten.
Über die Dynamik der Veränderung, die Herausforderungen und einen Ausblick in die Zukunft der InsurTech Branche spreche ich mit Bastian Ebel (Zum LinkedIn-Profil), Gründer von Claimsforce.
Bytes4Business: Hallo Bastian, Du bist Versicherungsfachwirt, hast Karriere gemacht bei einem der ältesten und größten Schadendienstleister Schweitzer Gruppe. Du kennst die Branche inside-out. Wann kam zum ersten Mal die Idee zum eigenen Unternehmen, wie ging’s dann weiter? Bastian: Ganz genau. Vor der Gründung von claimsforce war ich bereits über 10 Jahre operativ in der Schadenregulierung tätig und habe in dieser Zeit mehrere tausend Sach- und Haftpflichtschäden selbst reguliert. Zudem war ich mehrere Jahre verantwortlich für das gesamte Schadenregulierungsgeschäft bei einem der ältesten und größten TPA/ Sachverständigenorganisation Deutschlands. In dieser Zeit konnte ich aus ganz unterschiedlichem Blickwinkeln die Schadenregulierung von so gut wie allen in Deutschland tätigen Sach-Versicherern kennenlernen.
Schon früh habe ich gesehen, wie fragmentiert und intransparent der gesamte Schadenregulierungsprozess für eigentlich alle Beteiligten ist. Und auch, wie sich die Erwartungshaltung der Versicherungskunden durch Einflüsse wie amazon, google & Co. deutlich schneller verändert hat, als Versicherer hier mithalten können. Dadurch ist die Kundenzufriedenheit viel stärker in den Fokus gerückt. Im Laufe der Zeit habe ich beobachtet, wie sich viele Branchen schnell der Digitalisierung genähert und sich transformiert haben. Die Versicherungsbranche aber leider nur sehr langsam – bis heute. So hat sich dann in 2018 die Gelegenheit ergeben, die Schadenregulierung der Zukunft selbst mitzugestalten. Das war der Grundstein für claimsforce.
Bytes4Business: Damit wir die Schadensregulierung einmal richtig einordnen können: Welchen Anteil macht dieser Bereich denn personell und kostenseitig innerhalb eines Versicherers aus? Inwieweit hilft dieser Bereich, einen USP im Wettbewerb zu schaffen? Bastian: Der Schadenbereich ist natürlich massiv und aus meiner Sicht eigentlich das Herz eines Sachversicherers. Lange vorbei sind die Zeiten, in denen Schaden als reines „Cost Center“ betrachtet und nur Fokus auf den Vertrieb gesetzt wurde.
Heute – und in Zukunft noch deutlich stärker – haben Schadenbereiche durch Begriffe wie „Customer Acquisition Costs“, „Cross-/ Up-Selling“, Wichtigkeit von Kundenzufriedenheit und Kosteneinsparungen enorm an Bedeutung gewonnen. In Zahlen ausgedrückt sprechen wir von über 20 Milliarden Euro jährlich an Leistungen – und das allein in den Sparten Sach und Haft – sowie über Schaden-Kosten-Quoten von über 90%.
Bytes4Business: Lässt sich der Effizienzgewinn beim Einsatz Eurer Software beziffern? Und in welchen Prozessschritten ist dieser Effizienzgewinn am höchsten? Bastian: Klar. Das ist für uns als datengetriebenes Unternehmen besonders wichtig. Unsere Software-Module wirken auf drei ganz wesentliche Teile der Schadenregulierung ein. Erstens: Kundenzufriedenheit, zweitens: Prozesskosten und drittens: Schadenaufwand. Wir nennen es die „Schaden-Triangel“. Alles, was wir tun zahlt auf diese Triangel ein.
Besonders hervorzuheben ist hier unser Dispositionsmodul, mit dem wir Versicherern und Regulierungsorganisationen ermöglichen, eine effiziente, transparente und vor allem weitestgehend automatisierte Steuerung von Reguliererschäden vorzunehmen. Unser Algorithmus steuert hier mehr als 95% aller Schäden automatisch. Außerdem werden Fahrtzeiten reduziert und auch „Liegezeiten“ – das sind Zeiten, in denen Schäden auf Grund von manuellen Prozessschritten nicht bearbeitet werden – deutlich verringert.
Daneben ist unser sogenanntes Regulierungs-Modul enorm stark. Hier werden alle Tätigkeiten eines Schadenregulierers/ Sachverständigen in einer Software zusammengefasst. Hier stehen vor allem Prozesseffizienzen im Vordergrund: Kürzere Bearbeitungszeiten, Wegfall von Medienbrüchen etcetera.
Bytes4Business: Einer der größten Finanz- und Versicherungskonzerne in China, Ping An, setzt massiv auf Automatisierung des Schadensmanagements mithilfe von KI, Chatbots, Blockchain, Datamining. Über 30.000 Entwickler arbeiten hier. Eine vergleichbare Stoßrichtung verfolgt das Start-Up Omnius unter dem Motto „kognitives Schadenmanagement“. Wo siehst Du heute und in Zukunft die Trennlinie zwischen der vollautomatischen Schadensabwicklung und Schäden, die Gutachter und Sachverständige erfordern? Bastian: Ich habe hier eine ganz klare Meinung: Natürlich klingt es immer besonders gut, wenn man von „Dunkelverarbeitung“ und Vollautomatisierung spricht. Dort, wo es sinnvoll ist, bieten wir dies natürlich an, zum Beispiel bei der Disposition. Aber sind wir doch mal ganz ehrlich:
Bei einem Schaden – der hohe Prozesskosten und Schadenaufwand generiert – sprechen wir überwiegend von extrem komplexen Prozessen mit diversen Beteiligten, langwierigen und kommunikationsintensiven Regulierungszyklen. Es werden zwar etwa 70 bis 80% der Schadenstücke vom Schreibtisch bearbeitet, jedoch machen diese lediglich ungefähr 20 bis 30% des Schadenaufwands aus, während die „nur“ 20 bis 30% der komplexen Schäden einen Aufwand (= Kosten) von etwa 70 bis 80% ausmachen. Daher haben wir mit unseren Software-Modulen zunächst hier angesetzt, da die Mehrwerte für alle Beteiligten hier am größten sind.
Bytes4Business: Risiken einzuschätzen und zu kalkulieren ist Teil des Kerngeschäfts der Versicherer. Um einer Oligopolisierung des Marktes vorzubeugen, gibt es meines Wissens die Pflicht großer Versicherer, Risikostatistiken mit kleineren Versicherern zu teilen, so dass Letztere überhaupt eine Datengrundlage für die Entwicklung eigener Versicherungsangebote zu haben. Ich finde das eine bemerkenswert weitsichtige Regulierung. Ohne Daten keine Geschäftsgrundlage. Kaum überraschend, dass Verkäufer von Amazon Data Sharing einfordern, etwa zu Nachfragemustern und zu Marktdaten. Gibt es vergleichbare Diskussionen rund um Data Sharing bezogen auf Schadensdokumentation, die für das Training von selbstlernenden Systemen erforderlich sind? Bastian: Bisher leider nicht. Das von Dir angeführte Beispiel zeigt aber, wohin wir uns als Gesellschaft in Bezug auf Digitalisierung und „Big Data“ entwickeln werden. Wir können das nur unterstützen. In Bezug auf Schadendokumentation ist dies aber leider noch ein sehr weiter Weg. Versicherer tun sich auf Grund ihrer – historisch bedingt – veralteten Datenhaltung schwer, vorhandene Daten überhaupt zu nutzen. Hier unterstützen wir beispielsweise durch unser Analytics-Modul. Dort erhalten unsere Kunden diese fehlende Transparenz, um von vergangenen Schäden zu lernen und dies für künftige Schäden intelligent einzusetzen.
Bytes4Business: Wo lagen denn bislang die größten Herausforderungen bei der Produkt- und Unternehmensentwicklung? Bastian: Als erstes möchte ich hier einmal unterstreichen, was unser herausragendes Team in wirklich kurzer Zeit geleistet hat. Wir haben in einem sehr komplexen Umfeld ein tiefgreifendes Produkt mit unterschiedlichen Modulen entwickelt, welches messbare Mehrwerte generiert.
Dabei ist – zu Beginn genauso wie heute – die größte Herausforderung aus meiner Sicht, dass man neben einer sehr nutzerfreundlichen Software vor allem auch den Menschen und Nutzer richtig abholen muss. Schließlich sprechen wir hier über die Umsetzung der „digitalen Transformation“. Und das bedeutet Veränderung für jeden. Hier leistet unser Customer Success Team hervorragende Arbeit, da wir unsere Kunden schon während des Onboardings, aber auch bei der späteren, täglichen Nutzung von claimsforce, sehr eng betreuen – was einen echten USP darstellt.
Bytes4Business: Wie schaut Eure strategische Roadmap aus, welche Ideen habt ihr für die Weiterentwicklung Eurer Produkte, wie schaut Euer geographischer footprint in fünf Jahren aus? Bastian: Wir entwickeln uns konsequent in Richtung unserer Vision, durch datengetriebene Entscheidungen Schäden effizienter, fairer und aufwandsärmer abzuwickeln, um mehr Kundenzufriedenheit zu generieren. In Zukunft werden alle am Schaden Beteiligten – auch den gesamten Versicherungsvertrieb (Agenten nutzen hier bereits unser Agentur-Modul), Handwerker etcetera – mit unseren Modulen arbeiten können und von der Schadenmeldung bis zur Auszahlung eine smarte Schadenregulierung erleben.
Bytes4Business: Gib’ uns doch mal als Insider der Versicherungsbranche einen Ausblick in die Zukunft. Welche Veränderungen, vielleicht sogar Disruptionen wird die Versicherungsindustrie bis 2030 durchlaufen? Was sind die spannendsten Trends? Bastian: Vor 5 oder gar 10 Jahren hätte ich diese Frage noch deutlich progressiver beantwortet. Man muss aber einfach anerkennen, dass die Versicherungsbranche eine sehr konventionelle Branche mit langer Historie ist. Computer und Daten werden hier seit dem Großrechner-Zeitalter genutzt. Dadurch bedingt muss diese Branche den größtmöglichen Aufwand betreiben, um sich hier fundamental in das digitale Zeitalter zu entwickeln. Da haben es die Tech-Giganten wie Google & Co. natürlich deutlich einfacher.
Deshalb denke ich, dass die Konkurrenz außerhalb der ursprünglichen Versicherungsbranche deutlich zunehmen wird. So werden Versicherungen immer mehr zu Services, die beispielsweise bereits beim Kauf eines Autos oder Hauses zugebucht werden. Zwar wird dahinter überwiegend immer noch ein klassischer Versicherer stehen, der das Risiko trägt und auch die Schadenregulierung verantwortet, aber der Transformationsdruck wird dadurch weiter zunehmen. Mit Fokus auf das Schadenmanagement wird – ausgelöst durch diesen Druck von außen – die Wichtigkeit für eine effiziente Schadenregulierung sowie die dadurch massiv zu beeinflussende Kundenzufriedenheit weiter zunehmen.
In jedem Fall denke ich nicht, dass wir in 8 Jahren erleben werden, dass ein überflutetes Haus – wie beispielsweise bei der Flutkatastrophe im Sommer 2021 – vollautomatisch oder gar durch einen Roboter oder eine Drohne reguliert wird. Dafür ist der „Faktor Mensch“ in diesem komplexen Geschehen weiterhin zu wichtig. Umso mehr setzen wir alles daran, die an einer Schadenregulierung involvierten Menschen technologisch bestmöglich zu unterstützen und ihren Arbeitsalltag zu erleichtern. Und genau dort wird aus meiner Sicht die wirkliche Disruption stattfinden.
Bytes4Business: Lieber Bastian, vielen Dank für Deine Zeit und dieses Gespräch! Da habe ich nochmal ein deutlich besseres Verständnis für die Veränderungsprozesse in der Versicherungsbranche gewonnen. Bleib‘ gesund und ich drücke die Daumen für die Fortsetzung Eurer success story!