In 2013 legte die Strategieberatung McKinsey die Essay-Sammlung “Re-Imagining India” vor, in der diverse Autoren ihre Analyse und Ideen für Indiens Zukunft formulierten. Das Buch verstand sich als Diskussionsplattform, die Essays fügten sich nicht zwangsläufig zu einem konsistenten Bild. Ebenso wenig lieferte das Buch Handlungsempfehlungen. Ganz anders das Buch „Riding the Tiger“ der Strategieberatung Roland Berger (erschienen 2016): Das Buch ist ein wertvoller und kompakter Ratgeber für Unternehmer in Indien, mit zahlreichen Handlungsempfehlungen für die Anpassung einer Unternehmensstrategie an die spezifisch indischen Rahmenbedingungen.
Die Autoren sind Dr. Wilfried Aulbur sowie Dr. Amit Kapoor. Dr. Aulbur ist Managing Partner Roland Berger India, bringt Praxiserfahrung als ehemaliger CEO von Mercedes-Benz India ein. Dr. Amit Kapoor ist Ehrenvorsitzender des indischen Institute for Competitiveness und unterrichtet bei Harvard Business Publishing zu Strategie, Wettbewerbsfähigkeit und Geschäftsmodellen. Eine Stärke des Buches besteht darin, dass die Autoren die unternehmerischen Rahmenbedingungen in Indien auf Basis diverser Kennzahlen nüchtern analysieren und mit gleicher analytischer Schärfe ableiten, welche Geschäftsmodelle in einem solchen Kontext erfolgversprechend sein können sowie worauf das Management den Fokus legen muss. Zahlreiche Case Studies unterstreichen den Praxisbezug. Das Buch entwickelt seine Argumentation mit deutlichem Fokus auf die produzierende Industrie (z.B. Maruti Suzuki, Godrej Consumer Products) und industrielle Dienstleistungen (z.B. Adani Ports). Das Buch adressiert eine Leserschaft im C-Level Management. Die Strukturierung nach Analyse und Case Studies mache ich nachfolgend an zwei ausgewählten Kapiteln deutlich.
Kapitel „Operational Excellence: The Pressure to Get the Basics Right“
Zu Beginn des Kapitels werden die notorischen Schwächen des Standorts Indien benannt: Schwache Infrastruktur, unsichere Stromversorgung, restriktiver Zugang zu Kapital sowie hohe Kapitalkosten, der niedrige Ausbildungsstand der Arbeitskräfte, Hürden beim Landerwerb, Vertragsvollstreckung sowie Reputationsnachteile im Hinblick auf „Country-of-Origin“. Verbesserung in einigen Bereichen einerseits (z.B. Zertifizierung nach internationalen Standards wie ISO, Einführung von Kaizen-Methoden) werden Verschlechterungen andererseits gegenübergestellt, so rutschte Indien in punkto Logistik in den letzten Jahren spürbar ab, im Weltbank-Rating von Platz 39 auf 54: Engpässe an Häfen und auf dem Landweg sowie lückenhafte Last-Mile-Anbindung sind hierfür die Gründe.
Im nächsten Schritt untersuchen die Autoren, mit welchen Strategien unter diesen Umständen dennoch eine erfolgreiche Unternehmung aufgebaut werden kann. Es folgen Case Studies, die das Erfolgsrezept am Standort Indien herausarbeiten. Es ist nicht überraschend, dass angesichts der Expertise von Dr. Aulbur als ehemaliger CEO von Mercedes-Benz India ein Beispiel aus der Automobilindustrie gewählt wird, nämlich Maruti Suzuki. Mit dem Anspruch des Strategieratgebers leiten die Autoren zunächst ab, dass das preissensitive Marktsegment der „Kleinfahrzeuge“ den indischen Markt dominiert; die hohe Preissensitivität in diesem Segment zwingt zu einem hohen Anteil an lokaler Beschaffung (größer 80%) sowie zu einer Strategie der economies of scale – Letzteres schließlich legt eine Exportstrategie nahe: „market dynamics position India’s small car segment as a global lead market, an enviable position for the Indian automotive Industry“.
Die Lessons Learned aus der Erfolgsstory von Maruti Suzuki sind umfangreich und weitreichend. Maruti Suzuki hat nicht nur konzernintern eine Qualitäts- und Effizienzkultur etabliert, sondern weit über die Unternehmensgrenzen hinaus ein gesamtes automobiles Ökosystem von Lieferanten. Hierbei wurde der konzerninterne Kulturwandel durch zahlreiche Programme vorangetrieben (3G, 3K, 3M, 5S), die kontinuierliche Qualitätsverbesserungen, Gewichtsreduktion der Fahrzeuge, Just-In-Time und Vieles mehr erzielt haben. Beispielsweise wurden Hunderte von Mitarbeitern entsandt in die japanischen Fabriken von Suzuki, um ein Verständnis für die gewünschte Qualität und Effizienz zu erhalten; Mitarbeiter mussten einen formellen Schwur ablegen, dass Sie keine Bauteile mit Minderqualität akzeptieren, produzieren oder in der Produktionskette weiterreichen würden.
Bei der Entwicklung eines qualitätsorientierten automobilen Ökosystems in Indien (von dem natürlich auch weitere OEM’s profitierten) agierte Maruti-Suzuki mit einer Mischung aus Händchenhalten und Orchestrierung einer Wettbewerbssituation. Dazu zählten Technologie-Kooperationen, Joint Ventures sowie der Aufbau von eigenen Tochtergesellschaften. 125 ausländische Automobillieferanten hat Suzuki nach Indien gebracht, unterstützte diese beim Aufbau; bei Joint Ventures forderte Maruti-Suzuki, dass ein Expatriate Qualitätsmanager für mindestens zwei Jahre den Aufbau begleitete, um die gesetzten Qualitätsziele zu erreichen. In Einzelfällen schickte Maruti-Suzuki sogar eigene Ingenieure zum Troubleshooting in die Fabriken der Lieferanten.
Kapitel “Indian Innovation: Driving Differentiation
Die Autoren argumentieren, dass Indien mit seinen spezifischen Rahmenbedingungen das chinesische Erfolgsrezept für die Rolle als globale Werkbank nicht kopieren könne: In Indien ist eine Strategie zum Scheitern verurteilt, die auf niedrige Arbeitskosten und effiziente Produktionsprozesse setzt. Denn die politischen Rahmenbedingungen positionieren Indien schwächer als beispielsweise China, es kommen rigide Arbeitsgesetze hinzu sowie höhere Arbeitskosten als in anderen Niedriglohnländern.
Gleichermaßen ist das Potential der indischen Wirtschaft für bahnbrechende Innovationsfähigkeit noch schwach ausgebildet. Indien hinkt bei Ausgaben von 0,9% am BSP für Forschung und Entwicklung im Vergleich zu größeren Volkswirtschaften deutlich hinterher, Indien ist gleichermaßen Schlusslicht in punkto Patentanmeldungen im Vergleich zu China, USA, Japan, Südkorea, UK oder Deutschland. Ein wesentlicher Grund hierfür ist die schwache Infrastruktur für die Tertiärbildung – die Absolventenzahlen der wenigen IIT’s (Indian Institute of Technology – Eliteinstitutionen) sind hier kaum mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein; ebenfalls ursächlich für wenige Patentanmeldungen ist die schwach entwickelte Zusammenarbeit zwischen Industrie und Wissenschaft.
„Riding the Tiger“ sieht den spezifischen Wettbewerbsvorteil Indiens in einer spezifischen Art der Innovation, der „FRUGAL Innovation“: „Frugal innovation is a structured innovation process that clearly focuses on delivering customer value at predetermined price points.“ FRUGAL steht für: Functional – Robust – Userfriendly – Growing (high volume, low-margin) – Affordable – Local (address customer issues in local context). Die Bedeutung für diese Variante der Innovation ergibt sich daraus, dass 95% des Bevölkerungswachstums sowie 70% des realen BSP-Wachstums in Emerging Markets stattfinden wird, einem preissensitiven Markt. Hier weist Indien Stärken auf.
Beispiele (Case Studies) für FRUGAL Produkte ist die Entwicklung eines kompakten Kühlschranks mit geringeren Investitionskosten sowie längerer Kühlzeit bei Stromausfall (ChotuKool): Der Kühlschrank besteht nur aus 30 Komponenten (im Vergleich zu 200 Komponenten für Standardmodelle), und durch die Öffnung von oben (Top-Lader) bleibt entweicht die gekühlt Luft beim Öffnen nicht (im Vergleich: Standardmodelle sind Frontlader). Eine weitere Case Study stellt Wasserentkeimungssysteme vor, die – im Vergleich zu Standardmodellen – Leitungswasser und Strom voraussetzen; die Preise dieser Modelle (TATA Swach, HUL Pureit) liegen ca. 80% unter den Preisen der Standardmodelle.
Aufgrund der wachsenden Bedeutung von FRUGAL Innovationen richten auch westliche multinationale Konzerne (MNC’s) ihre Bemühungen darauf aus – wenn auch mit Anlaufschwierigkeiten: „Developed market companies have woken up to the need of frugal innovation. Many are in the process of adjusting their innovation processes, but few have cracked the frugal innovation code.“ Ein Erfolgsfaktor für erfolgreiche FRUGAL Produkte ist nicht zuletzt die Produktion in einem Niedriglohnland wie Indien: “Local sourcing and manufacturing had the potential of reducing cost by 20-40 cent.”
Die Logik des Aufbau’s von Forschungs- und Entwicklungszentren in Indien durch MNC’s ist natürlich nicht ausschließlich auf FRUGAL Innovationen ausgerichtet; der Fachkräftemangel und die demographische Entwicklung in Ländern der Triade zwingt Unternehmen zur Erschließung neuer Arbeitsmärkte. Im Fall des Aufbaus von F&E Einheiten in Indien ergeben sich dadurch nicht nur Kostenvorteile, sondern auch die Möglichkeit zu anderen Schichtmodellen (Zwei Schichten in F&E Zentren von Automobilunternehmen); ein Großteil dieser F&E Zentren sind in IT/Software angesiedelt (41%), aber die Robert Bosch Engineering and Business Solutions Ltd (RBEI) mit 17.000 Angestellten (davon: 12.000 Ingenieure) macht die Bedeutung auch für andere Branchen deutlich. Bei RBEI handelt es sich um das größte F&E Zentrum für Bosch außerhalb Deutschlands. Dank zahlreicher Maßnahmen zur Ausbildung, Entsendungen und Sprachausbildung erreichen die indischen Ingenieure eine Effizienz von ca. 85% ihrer deutschen Pendants.
“Riding the Tiger. How to execute Business Strategy in India.“ Penguin Random House India, 2016