Dieser Artikel wurde 2016 in anderem Kontext veröffentlicht, später auf diese Plattform migriert. Die Aussagen haben nach wie vor uneingeschränkte Gültigkeit.

Ein bisschen Jammern gehört zum Geschäft. Im Fall von Indien wird gerne etwas mehr gejammert: Infrastruktur, Verkehr, Zeitverständnis, Pünktlichkeit, Kastenwesen – da findet man immer was. Das geht vielfach mit der Überzeugung einher, der Standort Indien müsse wahrscheinlich bald zumachen. In 2012 saß ich beim Deutschen Stammtisch in Bangalore neben einem Top Manager der Automobilindustrie, der schwärmte von Südafrika, dort gebe es eine tolle Infrastruktur. Für Indien sei er aber sehr skeptisch. Das werde von anderen Standorten bald links und rechts überholt.

Ruchir Sharma, Leiter des „Emerging Markets Equity Team“ der Investmentbank Morgan Stanley, sah zum gleichen Zeitpunkt Schwellenländer wie Türkei, Indonesien oder Vietnam als die zukünftigen Wachstumsmotoren der Weltwirtschaft; die Goldenen Zeiten der BRIC-Staaten seien vorbei. Und die Philippinen hatten ein Jahr zuvor Indien in punkto Anzahl der Call Center Agenten in 2011 erstmals überholt. Ich hatte in 2011 gerade den Startschuss für ein IT-Entwicklungszentrum im Silicon Valley Indiens, Bangalore gegeben. Diese Einschätzungen beunruhigten mich also ein wenig.

Tatsächlich kam alles anders: Südafrikas Wirtschaft sollte nur wenig später spektakulär abstürzen auf ein Wachstum unter zwei Prozent, es dominierten Nachrichten à la „Wie Südafrika sich selbst demontiert“, „Die Krise des Präsidenten“ oder „Wirtschaftlicher Stillstand in Südafrika“. Auch die Türkei demontiert sich gerade unter Präsident Erdogan, über Indonesien wiederum kann jeder lesen, dass innenpolitische Spannungen, fallende Rohstoffpreise und wachsende Terror-Gefahr die wirtschaftliche Dynamik ausbremsen. In den Philippinen verschreckt die Zero-Tolerance-Politik des neuen Präsidenten Duterte die Investoren.

Indien dagegen ist auf Wachstumskurs. Insbesondere Indiens IT Industrie zeigt keine Anzeichen von Schwäche, der indische Branchenverband NASSCOM ist zuversichtlich, dass die BPO Industrie das Umsatzziel von 225 Mrd. US-Dollar im Jahr 2020 erreicht (in 2016: ca. 150 Mrd. US-Dollar). Indien bleibt allein aufgrund seiner schieren Größe für Investoren ein Must-Have, Beispiel Automobilmarkt: Der Nutzfahrzeughersteller Daimler erklärte jüngst, Indien sei der zweitgrößte Markt weltweit nach China.

Ist Indien darum ein einfacher Standort für Investoren? – Nein! Noch während sich die Tigerstaaten Südkorea, Taiwan, Singapur und Hongkong in Zeitraffer von Entwicklungsländern zu Industriestaaten entwickelten, bremste ein sozialistisch geprägter Regierungs- und Beamtenapparat in Indien Unternehmer aus: Der heutige heimische IT-BPO Gigant InfoSys musste während seiner StartUp-Phase in den 1980ern fast ein Jahr auf einen Telefonanschluss warten, und es dauert drei Jahre bis zur Erlaubnis für den Import der ersten Computer. Heute ist Indien um ein Vielfaches unternehmerfreundlicher, however, der Reformbedarf ist noch immer groß, vor allem in den Bereichen Infrastruktur, Bildung, Steuervereinfachung, Erwerb von Grund und Boden.

Indien ist ein bisschen wie ein schönes, zickiges Mädchen: Alle wollen mit ihr tanzen, aber hinter ihrem Rücken wird kräftig gelästert. Aller Erfahrung nach haben solche Mädchen auf dem Heiratsmarkt trotzdem gute Chancen.

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Der Autor ist Manager in der Softwareindustrie mit internationaler Expertise: Prokurist bei einem der großen Beratungshäuser - Verantwortung für den Aufbau eines IT Entwicklungszentrums am Offshore-Standort Bangalore - Director M&A bei einem Softwarehaus in Berlin.