“Snowcrash“, von Neal Stephenson, Erscheinungsjahr: 1992, 540 Seiten, 9 EUR (Taschenbuch, Englische Ausgabe)

Cyberpunk Kultbuch. Moderner Klassiker. Postmoderne, visionäre Science-Fiction.

So wird das Buch häufig beschrieben, und alles ist zutreffend. Ganz entscheidend für meine Leseempfehlung ist aber vor allem: „Snow Crash“ ist nicht einfach ein Must-Read, sondern das Buch macht Spaß. Was dieses Buch insbesondere auszeichnet ist ein Schreibstil, der sich aus der ursprünglichen Konzeption des Buches als „computererzeugte graphic novel“ (das verrät der Autor Neal Stephenson im Nachwort der neueren Ausgaben). Das reflektiert sich unmittelbar im Schreibstil, einer Manga-Ästhetik sowie Überzeichnung der Charaktere ins Übermenschliche, kurz: einer expliziten Comic-Haftigkeit (aber ohne die bunten Bilder).

Die Protagonisten im Roman sind wandelnde Superlative. Die männliche Hauptfigur Hiro ist „bester Schwertkämpfer der Welt“ und der letzte „unabhängige Hacker“, der an der Entwicklung [=Programmierung] des Metaverse maßgeblich mitgewirkt hat, quasi ein Urvater des Metaverse. Die weiblichen Protagonistinnen („Y.T.“ und „Juanita“) sind beide superintelligente „knock-outs“, und der Widersacher „Raven“ ein unbesiegbarer Kämpfer mit übermenschlichen Fähigkeiten.

Das Buch schwelgt in einer Lust an Phantasie, einer schillernden Lebenswelt voller Wunderlichkeiten, alles serviert mit einem ironischen Augenzwinkern und bisweilen satirischen Überzeichnung. Snow Crash kann auch als Parodie auf den Science Fiction Hype der 80er verstanden werden. Es ist eine phantastische Erzählreise, und der Autor erinnert seine Leserschaft immer wieder an die Fiktionalität des Lesestoffs. Schon allein der Name der Hauptfigur: „Hiro Protagonist“ (sic!) Also, übersetzt: „Hiro Hauptfigur“. Und an anderer Stelle (im Chapter 6) liest man etwa:

“MetaCorps‘ main competitor, WorldBeat Security, handles all roads belonging to Cruiseways, plus has worldwide contracts with Dixie Traditionals, Pickett’s Plantations, Rainbow Heights, Meadowvale on the [insert name of river] and Brickyard Station.”

Diese Verweise auf die Fiktionalität verschaffen Neal Stephenson die Freiheit für eine phantasievolle Erzählung.

Eine kurze Inhaltsangabe

Zur besseren Einordnung anbei eine grobe Übersicht zum Plot. Auf www.phantastik-couch.de wurde das gut auf den Punkt gebracht, darum übernehme ich das nachfolgend ganz ohne eigene Anpassungen. Bitte schön:

Hiro Protagonist ist Programmierer und Mitbegründer des Metaversums, wo die meisten Menschen, ob arm oder reich, einen Großteil ihres Lebens oder zumindest ihre Freizeit verbringen. Der Begriff Avatar für ein virtuelles alter ego geht nebenbei bemerkt auf Stephensons Prägung zurück. Die Story spielt meist in L. A., einem Amerika der immer noch unbegrenzten Möglichkeiten, allerdings mit einem Klassen-Problem.

Der ehemalige Rechtsstaat ist auf seine Kernkompetenz zusammengeschrumpft (FBI), das Leben spielt sich fortan in privaten Franchise-Staaten, in sogenannten Burbklaves ab (eine Wortneuschöpfung aus Suburbs und Enklave). Sogar Gefängnisse funktionieren wie Motelketten nach diesem Prinzip. Und die Mafia empfängt jeden mit offenen Armen. Das Gesetz wurde abgeschafft und in jeder Burbklave gilt eigenes Recht für ihre Staatsbürger; im Gegenzug zu dieser realen Welt geht es in der Virtualität des Metaversums verhältnismäßig regelkonform zu und her.

Dort ist Hiro längst eine Legende, ein Star, der auch mal mittels seiner beiden japanischen Schwerter für die Untermauerung seiner Standpunkte sorgt. Im richtigen Leben ist Hiro momentan – wegen schnöder Geldsorgen – Pizzalieferant. Ab dem Zeitpunkt, wo es ihm für einmal nicht gelingt, den belegten Teigfladen innerhalb von dreißig Minuten zuzustellen (wofür Firmenpatron Onkel Enzo persönlich bürgt) und Hiro dabei das Pizzamobil der Mafia in einen trockengelegten Pool manövriert, wird alles ein wenig komplizierter. Die skatende Kurierin W.T. hilft ihm vorerst aus der Klemme, doch schon bald wird Hiro mit einem echten Problem konfrontiert: Im Metaversum taucht ein Typ namens Raven auf, der Hiros Hacker-Kollegen reihenweise mit einem Virus schachmatt setzt.

Das Nebeneinander von visionärer Science Fiction und unrealistischen Ausschmückungen

Was das Buch ganz eindeutig zum Klassiker macht: Die Science Fiction Vision des „Metaverse“, die Begriffsprägung des „Avatars“. Hier finden sich bereits alle Elemente, die in der Vision zum Metaverse des Silicon Valley viele Jahre später eine Rolle spielen. Und Neal Stephenson dekliniert einige technische Herausforderungen und die Genese des Metaverse an verschiedenen Stellen im Buch immer wieder verblüffend weitsichtig durch. Nachfolgend ein Textauszug (aus Chapter 63), in dem der Autor das Zusammenspiel von Programmcode des Metaverse und Hardware beleuchtet:

”[Hiro] pokes his katana [=Japanese sword] trough the side of the cube and follows it through the wall and out the side. This is a hack. It is really based on a very old hack, a loophole that he found years a ago when he was trying to graft the sword-fighting rules on the existing Metaverse software. His blade doesn’t have the power to cut a hole in the wall – this would mean permanently changing the shape of someone else’s building – but it does have the power to penetrate things. Avatars do not have that power. That is the whole purpose of a wall in the Metaverse; it is a structure that does not allow avatars to penetrate things. But like anything else in the Metaverse, this rule is nothing put a protocol, a convention that different computers agree to follow. In theory, it cannot be ignored. But in practice, it depends upon the ability of different computers to swap information very precisely, at high speed, and at just the right times. And when you are connected to the system over a satellite uplink, as Hiro is, out here on the Raft, there is a delay as the signals bounce up to the satellite and back down. That delay can be taken advantage of, if you move quickly and don’t look back. Hiro passes right through the wall on the tail end of this all-penetrating katana.“

Neal Stephenson beschränkt sich in seiner phantasievollen Ausgestaltung des Settings nicht auf das „technisch Machbare“: Während das Metaverse (q.e.d.) seine technische Weitsicht belegt, finden sich in dem Buch auch zahlreiche Gadgets, die ich mir auch bei maximaler Ingenieursgenialität nicht realisierbar erscheinen: Das reicht von diversen Waffensystemen bis hin zum Skateboard der weiblichen Protagonistin „Y.T.“, das – ganz ähnlich wie ein James Bond Fahrzeug – ganz erstaunliche Fähigkeiten mit sich bringt. Kurz: Hier tauchen Leserinnen und Leser in eine phantasievoll gestaltete Welt ein, die offenbar Einstein’s bekanntes Zitat als Motto hat: „Die Vorstellungskraft ist wichtiger als das Wissen. Das Wissen ist begrenzt.“

Fazit

Eine willkommene Abwechslung in Stil und Inhalt. Mag das Setting des Buches – wie in der Cyberpunkt Literatur üblich – eine dystopische Zukunft beschreiben, so macht die Erzähldynamik, der Witz der Figuren und die überschwänglich-phantasievolle Ausgestaltung das Buch zu einem Gute-Laune-Buch. Unbedingt lesen.

Zum Weiterlesen

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  • Author

    Der Autor ist Manager in der Softwareindustrie mit internationaler Expertise: Prokurist bei einem der großen Beratungshäuser - Verantwortung für den Aufbau eines IT Entwicklungszentrums am Offshore-Standort Bangalore - Director M&A bei einem Softwarehaus in Berlin.