Das Autorenteam Frank Riemensperger und Svenja Falk (beide ACCENTURE) legen nun bereits das zweite Buch vor, das als Leitfaden für eine Digitalisierung der Deutschland AG gedacht ist. Im März 2019 erschien bereits das Buch „Titelverteidiger. Wie die deutsche Industrie ihre Spitzenposition auch im digitalen Zeitalter sichert“. Ziel des Buches: “eine Strategie für Deutschland“.

Das neue Buch „Neues Wagen. Deutschlands digitale Zukunft zwischen den USA und China“ (Erscheinungszeitpunkt: Dezember 2020) verfolgt das gleiche Ziel. Wer das Vorgängerbuch „Titelverteidiger“ gelesen hat, der ist mit zahlreichen Argumentationslinien, Statistiken und Analysen bereits bekannt. Zu diesen bekannten Elementen zählt etwa die Erläuterung zur Funktionslogik der datengetriebenen Ökonomie oder die Beschreibung der Entwicklungsdynamik in der Volkswirtschaft China.

Ein (neuer) Schwerpunkt des Buches liegt in der detaillierten und gut nachvollziehbaren Analyse der geopolitischen Spannungslage (auch genannt: Tech War) zwischen den USA und China. Das Autorenteam liefert damit einen guten strategischen Horizont, welcher der Leserschaft ein gutes Verständnis der technologischen und geopolitischen Trends und Dynamiken vermittelt. Hierzu greift das Buch auch weit aus und macht einen Parforce-Ritt durch die drei Dekaden von 1990 bis 2020: Dekade des Wandels (1990 – 2000), Dekade der Globalisierung (2001 bis 2020), Dekade der Spaltung (2011 – 2020).. Die Leserschaft erhält eine knackige Analyse von strategischer Relevanz.

Das Buch kreist um eine weitere vieldiskutierte Frage: Wieviel technologische Souveränität kann Deutschland (bzw. Europa) noch gelingen? Und: Welche technologische Souveränität? Hier geht es nicht zuletzt um das Projekt Gaia-X, das eine Antwort auf die Dominanz der US-amerikanischen und chinesischen Hyperskaler im Cloud Computing versucht.

„Neues Wagen. Deutschlands digitale Zukunft zwischen den USA und China“, von Frank Riemensperger und Svenja Falk, REDLINE Verlag, 30 Euro, Erscheinung Dezember 2020, 270 Seiten

“Neues Wagen“ (Autoren: Frank Riemensperger, Svenja Falk): Die geopolitische Herausforderung

Über China und dessen technologischen Ambitionen wird viel geschrieben. Die Analyse der Autoren Frank Riemensperger und Svenja Falk sind folglich nicht völlig neu. Aber Es gelingt eine sehr kompakte Analyse der Entwicklungsdynamik in China sowie der geopolitischen Spannungslage. Aus meiner Sicht ist dies der überzeugendste Abschnitt des Buches.

Das Buch formuliert schon zu Beginn eine provokante, aber keineswegs unplausible These: Bis zum Beginn der Industrialisierung in Europa bildeten China und Indien die größten Volkswirtschaften der Welt. Die Entwicklungsdynamik deutet nun darauf hin, dass die Dominanz der westlichen Industrien bald zu Ende gehen könnte. Just in diesem Jahr (2020) überrundete erstmals das Bruttosozialprodukt Asiens die Wirtschaftsleistung der übrigen Welt – Tendenz: steigend.

China hat sich ehrgeizige Ziele gesetzt und verfolgt diese mit konsequenter Beharrlichkeit. Dazu der ehemalige Außenminister Sigmar Gabriel (Aktualität: 2020): “Man kann heute wohl sagen, dass China das einzige Land der Welt ist, das überhaupt eine entwickelte langfristige geostrategische Idee hat.“. Diese Zielorientierung zeigt sich in zahlreichen Initiativen (One Road, One Belt – ab 2013) und Mehr-Jahresplänen wider. Dazu zählt Made in China 2025 und auch das Ziel, bis zum Jahr 2030 zur führenden Technologienation bei Künstlicher Intelligenz aufzusteigen.

Es geht um nichts weniger als Technologische Souveränität, die durch den Tech War mit den USA noch zusätzlich beschleunigt wird. Hierzu einige Indikatoren: China verfügt bereits heute über die meisten Supercomputer in der Welt. Im Herbst 2019 stellt Huawei das Betriebssystems „Harmony OS“ für Mobiltelefone vor. Zum gleichen Zeitpunkt wurde ein 29 Mrd. US-Dollar schwerer Fonds aufgelegt, um die Halbleiterindustrie zu fördern. Die Ablösung des amerikanischen GPS durch ein eigenes Satellitennavigationssystem Beidou ist in Vorbereitung. Und der ehemalige Google-Chef Eric Schmidt prognostizierte gar in 2018, dass sich China bis 2028 sein eigenes Internet aufbauen würde.

Unternehmen stehen in China mit einer Bevölkerung von 1,4 Milliarden Einwohnern schier grenzenlose Data Lakes zur Verfügung, um KI-Algorithmen zu trainieren. Hinzu kommen Heerschaaren von Arbeitern, um Daten zu kuratieren: “Einer der größten Datenverarbeiter Chinas, die Firma MBH, beschäftigt zum Beispiel 300.000 Angestellte, die irgendwo in der Provinz zu Billiglöhnen und wie am Fließband nichts anderes tun, als Daten zu kategorisieren und zu labeln (…).“ (S. 85).

Eine sehr schöne Graphik in dem Buch zeigt auf, in welchen Bereichen die Regionen USA, China und Europa jeweils technologische Souveränität haben. Die These, dass China eben dieses Ziel innerhalb des nächsten Jahrzehnts erreicht, ist nicht unplausibel. Sollte die Entwicklung auf (mindestens) zwei technische Sphären hinauslaufen, hätte dies massive Konsequenzen. Riemensperger und Falk warnen: „Wenn sich das Internet zwischen den USA und China teilt, bedeutet das, dass sich auch die Ökosysteme scheiden, riesige Wertschöpfungsnetzwerke, in denen Tausende Unternehmen zusammenarbeiten, werden dabei auseinandergerissen. (…) Der Konflikt könnte Staaten zwingen, sich zwischen US- und chinesischen Technologien zu entscheiden oder – für die exportorientierte deutsche Industrie wahrscheinlich – Strategien für beide Welten zu entwickeln.“ (S. 178f)

“Neues Wagen“ (Autoren: Frank Riemensperger, Svenja Falk): Stärken und Schwächen der Deutschen Industrie

Wie positioniert sich hier nun Deutschland bzw. Europa? Wie bewerten die Autoren bestehende Initiativen und Maßnahmen?

Kaum überraschend: Riemensperger und Falk mahnen zu deutlich mehr Tempo –kaum überraschend! Das Autorenteam fordert mehr Tempo ein bei eGovernment. Sie werben außerdem für die Idee einer „Sonderwirtschaftszone“, wo Regularien entweder zeitweise ausgesetzt oder Verfahren beschleunigt werden, um „Innovationshubs“ zu schaffen. Gerade angesichts der Relevanz von Zugang zu Daten, fordert das Autorenteam eine Revision des Europäischen Datenschutzkonzepts ein, mehr Tempo bei der Umsetzung des deutschen Datennutzungsgesetzes. Und sie machen die Leserschaft auch vertraut mit Diskussionen darüber, große Data Lakes für Daten-zentrierte Unternehmen zu schaffen: “Ein gemeinsamer Datenpool von Staaten wie Kanada, Australien, Großbritannien und EU-Staaten könnte helfen. So hat auch der ehemalige NATO-Generalsekretär Fogh Rasmussen gefordert, dass zum Beispiel die Militärallianz ihre eigene, demokratische KI-Entwicklung benötige.“ (S. 186) Hier erlaube ich mir den Hinweis darauf, dass ich vor einiger Zeit angeregt habe, Indien in eine Europäische (oder: westliche) KI-Strategie einzubinden: Indien als zentraler Partner für eine europäische KI-Strategie?

Riemensperger und Falk appellieren nicht nur an Regierungen, sondern auch das Management der Deutschland AG. Der Buchtitel selbst ist hier als Appell zu verstehen: „Neues Wagen!“.

Gemäß der Analyse des Autorenteams wird Digitalisierung vielfach noch zu „defensiv“ umgesetzt: Digitalisierungsprojekte zielen auf Kosteneinsparungen ab, auf die Optimierung bestehender Workflows. Die Entwicklung neuer Geschäftsmodelle zur Erschließung neuer Märkte und neuer Skalierungspotentiale findet zu selten statt. Ebenfalls beklagen die Autoren, dass Ökosysteme häufig zu wenig offen ausgelegt werden – dies wiederum verspielt Chancen auf Skalierung und eine marktliche Durchdringung.

Die Stärken wiederum sehen Riemensperger und Falk im breiten und tiefen industriellen Know-How:

“Die industrielle KI, also der Einsatz von KI zur Realisierung der nächsten Stufe der Industrie 4.0, ist das Anwendungsgebiet der KI, auf dem Deutschland einen klaren Vorsprung gegenüber Nordamerika, China und Japan hat.“ (S. 241) Dr. Eberhard Veit von der Robert Bosch Treuhand bringt die Startposition der Deutschen Industrie gut auf den Punkt: “Unser hohes Anwendungswissen, die gesammelten Daten und die Hardware-Expertise, sind der eigentliche Content für den Software-Code und macht die Elektrik und Elektronik (E/E) erst wertvoll. Ein wichtiger Vorteil der deutschen Industrie, den es zu nutzen gilt!“ (S. 255)

Plattformen, IoT, Vernetzung: Diese Geschäftsmodelle setzen vielfach eine Cloud-Infrastruktur voraus. Hier dominieren die US-amerikanischen und chinesischen Anbieter. Fraglich ist nun, inwieweit Deutschland (bzw. Europa) seine Wettbewerbsvorteile halten kann, wenn für die Geschäftsmodelle die US-amerikanischen oder chinesische Cloudinfrastruktur genutzt wird. Braucht Europa eine eigene Cloud-Infrastruktur? – Im August diesen Jahres teilte Frank Riemensperger auf LinkedIn einen Artikel des Manager Magazins, der dies in Frage stellt: „Die US-Techgiganten Amazon und Microsoft verdrängen Siemens und Bosch bei der Vernetzung der Fabriken. Den Deutschen droht die Degradierung zu Zulieferern.

Der Artikel führt weiter aus, die Aussicht auf eine „Titelverteidigung“ in der Industrie 4.0 bzw. im Bereich IoT rücke für die Deutsche Industrie zunehmend in die Ferne. “Der vermeintlich so sichere Sieg der deutschen IoT-Pioniere scheint kaum mehr möglich.“. Es wird klar herausgearbeitet, wo die „Titelverteidigung“ hapert, und zwar am Beispiel der Industrie-Cloud für den Volkswagen-Konzern. Der OEM will bis 2025 sämtliche 124 Werke in die Cloud bringen, mit sämtlichen Maschinen, Lageranlagen und Transportsystemen. Allein im Stammwerk Wolfsburg sind das 50 000 Elemente, die in der Cloud vernetzt werden. Doch Cloud ist gerade keine Stärke der Deutschen Industrie, es gibt überhaupt keinen Europäischen Player auf Augenhöhe mit den Hyperscale-Anbietern aus den USA. Und so zieht die Autorin des Artikels, Eva Müller ein nüchternes Fazit: “Wer in diesem ungleichen Wettbewerb am Ende gewinnen wird, scheint den meisten Marktbeobachtern sonnenklar: Die Infrastruktur für die industriellen Megavorhaben können ohnehin nur die Giganten mit ihren riesigen Rechenzentren liefern. Und ihr Know-How bei den industriespezifischen Anwendungen wächst mit jedem Kunden weiter. Den einstigen Vorreitern der Industrie 4.0 bleibt eine Rolle als Projektpartner.“

Konsequenterweise stellt das Autorenteam Riemensperger und Falk die Frage nach der Europäischen Cloudinfrastruktur. Eine Bewertung des Projektes Gaia X fällt dabei eher skeptisch aus – begründet durch eine noch unausgereifte technische Konzeption, komplexe Abstimmungsprozesse und mangelnde Finanzierung. Kurz: “Ein Taktwechsel scheint erforderlich, wenn diese europäische Initiative Aussicht auf Erfolg haben soll.“ (S. 197) Den Finanzierungsbedarf für eine Europäische Cloud beziffern die Autoren auf ca. 100 Milliarden US-Dollar (S. 198).

An anderer Stelle bieten die Autoren eine Definition von „Technologischer Souveränität“ an, die nicht zwingend eine eigene Europäische Cloud-Infrastruktur voraussetzt. Nämlich die Definition des Branchenverbandes der Digitalindustrie Bitkom: “Möglichkeit, eigene Gestaltungs- und Innovationsspielräume zu erhalten und einseitige Abhängigkeiten zu vermeiden.“. Das ist – zweifelsohne – eine eher defensive Definition. Oder – anders formuliert – eine gesichtswahrende Definition, sollte das Gaia-X-Projekt nicht den erhofften Erfolg zeitigen. Das Autorenteam positioniert sich in diesem Punkt nicht eindeutig, was aber durchaus wünschenswert gewesen wäre.

“Neues Wagen“ (Autoren: Frank Riemensperger, Svenja Falk): Mein Fazit

Ich würde das Buch jedem empfehlen, um ein fundiertes Verständnis des geopolitischen Spannungsfeldes des Tech Wars zu gewinnen – und die Implikationen für den Standort Deutschland bzw. Europa. Das Buch liefert eine kompakte Analyse der strategisch relevanten Trends und Entwicklungsdynamiken.

Als Impulsgeber für Reformen und als „Ruckrede“ für die Deutschland AG halte würde ich klar das Buch „Zukunft verpasst?“ von Cornelius Boersch, Thomas Middelhoff empfehlen. Letztgenannte Autoren müssen keine politischen Rücksichten nehmen und legen eine schonungslose Analyse der Versäumnisse vor. Sie definieren außerdem ein Reformprogramm am Ende des Buches aus, das in seiner Radikalität kaum durchführbar erscheint, aber in aller Schonungslosigkeit offenlegt, wie eine ambitionierte Aufholjagd aussehen müsste, wenn man zu den Tech Nationen USA und China wirklich aufschließen wollte. Inkrementelle Verbesserungen werden nicht ausreichen. Diese schonungslose Ehrlichkeit ist essentiell, wenn wir nicht – wie Verena Pausder es formulierte – zum „Naherholungsgebiet für China“ werden wollen.

Zum Weiterlesen

  • Digitalisierung: Wo ist die überfällige Bildungsrevolution?
  • Digitalisierung: Chancen. Risiken. Handlungsbedarf – ein Überblick in 30 Minuten per Video
  • Buchempfehlung: „Zukunft verpasst?“ von Cornelius Boersch, Thomas Middelhoff
  • Buchempfehlung – „Das Neue Land“ von Verena Pausder
  • Das Projekt GAIA-X: Überblick, Kritik und Ausblick
  • Author

    Der Autor ist Manager in der Softwareindustrie mit internationaler Expertise: Prokurist bei einem der großen Beratungshäuser - Verantwortung für den Aufbau eines IT Entwicklungszentrums am Offshore-Standort Bangalore - Director M&A bei einem Softwarehaus in Berlin.