Vor einigen Tagen stand ich in meinem Berliner Lieblingsbuchladen Dussmann vor dem Regal mit den (Neu)Erscheinungen rund um Digitalisierung. Auf Blickhöhe das Buch „Novozän. Das kommende Zeitalter der Hyperintelligenz“ von James Lovelock. Einigen von Ihnen ist der Autor vielleicht als Vater der „Gaia“-Hypothese bekannt. Zwei Minuten Querlesen zeigen, dass das Buch klar in die Kategorie SciFi fällt – mit einer Prise Esoterik. Was soll’s! Von Lovelock hatte ich noch nichts gelesen, das Buch hat 150 Seiten, das sind drei S-Bahn-Fahrten zum Büro Hin-und-Zurück.
Die Gaia Hypothese
Lovelock ist unbestreitbar eine schillernde Persönlichkeit, zumal mit unbestreitbaren Meriten. Er ist Mitglieder der Royal Society, er hat zahlreiche Preise erhalten, sogar ein Asteroid ist nach ihm benannt (Asteroid 51663). Er wurde in 2019 100 Jahre alt. Völlig unbestritten hat Lovelock Verdienste darin, ein tieferes Verständnis zu schaffen für das dynamische selbstregulierende Ökosystem unserer Erde. Jeder, der sich mit den vielfältigen Steuerungsmechanismen innerhalb der Fauna und Flora, des Klimasystems, der Selbstregulierungsprozesse beschäftigt, kann nicht anders als unglaublich fasziniert zu sein. Eben diese Faszination hat er zu kommunizieren gewusst. Lovelock geht aber über eine Beschreibung dieses komplexen Systems hinaus, er begreift das Ökosystem Erde sogar als eigenen „Organismus“. Und genau das ist ja die Gaia-Hypothese.
In diesem Buch stellt er seiner Leserschaft erneut die Gaia-Hypothese vor, begründet (rechtfertigt) diese – denn diese Hypothese ist sehr zentral für die These des „Novozäns“, die er in diesem Buch vorstellt. Ebenso zentral ist die Herausforderung, vor der unser Ökosystem Erde (bzw. „Gaia“) stehen. Nämlich die zunehmenden Temperaturen, oder – anders formuliert – die Regulation der Temperatur, um auf dem Planeten weiter Leben zu ermöglichen. Diese Herausforderung ergibt sich zum einen aufgrund des menschengemachten Klimawandels (Stichwort: Anthropozän). Zum anderen wird auch die Sonne über die nächsten Jahrmillionen immer heißer, bis die Sonne in ca. 5 Milliarden Jahren zu einem Roten Riesen wandeln wird und die Erde langsam verschlucken wird.
Zwar sind fünf Milliarden Jahre noch weit weg, aber der gegenwärtige Klimawandel ist ja durchaus bereits bedrohlich genug. Aber Lovelock ist optimistisch. Denn das Novozän wird eine Lösung hervorbringen …
Das Novozän und die Cyborgs
Lovelock wurde mit seinen Forschungen und auch der Gaia-Hypothese vielfach in die New- Age-Ecke abgeschoben. Wer sein Buch liest, der dürfte darüber nicht überrascht sein. Es bleibt am Ende jedem selbst überlassen, die Hypothesen einzuordnen. Soviel vorweg. Jetzt zur zentralen These des Buches …
Der Optimismus von Lovelock ist darauf begründet, dass er die Herausbildung einer heilsbringenden Hyperintelligenz erwartet. Und das ist kein Zufall. Gemäß dem Autor ist der Mensch ein Wesen, den Gaia zielgerichtet hervorgebracht hat, um die technologischen Grundlagen für die Entwicklung von Hyperintelligenz zu schaffen. Und diese Hyperintelligenz (er bezeichnet hyperintelligente Wesen als „Cyborgs“) werden die Probleme lösen: “Ich denke, es ist entscheidend zu begreifen, dass wir uns, welchen Schaden wir der Erde auch immer zugefügt haben mögen, gerade noch rechtzeitig gerettet haben, indem wir gleichzeitig als Eltern und Geburtshelfer der Cyborgs agieren. Sie allein können Gaia durch die astronomischen Krisen führen, die uns bevorstehen.“ (S. 107)
Nach Lovelock erleben wir bereits die Anfänge des hyperintelligenten Zeitalters (des „Novozäns“), die Entwicklung des KI-Algorithmus „AlphaGo Zero“ ist für ihn ein Hinweis darauf. Einen Konflikt zwischen Menschen und Hyperintelligenzen sieht der Autor wiederum nicht. “Nein, denn wir brauchen einander. Gaia wird den Frieden bewahren.“ (S. 47)
Mein persönliches Fazit zum Buch
Lovelock gebührt zweifelsohne Respekt dafür, seine Ideen auch gegen den Widerstand des wissenschaftlichen Mainstreams weiter zu verfolgen. Er bringt zudem eine multi-disziplinäre Sicht auf die Dinge ein, die Voraussetzung für ein ganzheitliches Verständnis ist. Auf Basis seiner astronomischen Kenntnisse ordnet er etwa auch für den Leser auf humorvolle Weise die „Mars-Vision“ des Silicon-Valley-Unternehmers Elon Musk ein: “Der Pionier und Möchtegernraumfahrer Elon Musk sagte, er würde gern auf dem Mars sterben, allerdings nicht bei einem Aufprall. Die Bedingungen auf dem Mars legen jedoch nahe, dass es wahrscheinlich doch besser wäre, bei einem Aufprall zu sterben.“ (S. 24)
Was seine Gaia-Hypothese angeht: In diesem Punkt nehme ich einen pragmatischen, positivistischen Standpunkt ein. Ob ein solcher Organismus besteht, lässt sich nicht beweisen. Auf Basis meiner bisherigen Lektüre zu dieser Hypothese würde ich mich zu den Skeptikern zählen. Und zwar schon alleine deshalb, weil diese Hypothese keinen Mehrwert in die Diskussion um (politische) Maßnahmen zum Kampf gegen den Klimawandel beiträgt. Dass es Handlungsbedarf gibt, sollte uns allein klar sein – und das völlig unabhängig davon, ob wir an die Gaia-Hypothese glauben oder nicht. Im schlimmsten Fall kann diese Hypothese sogar zur irrigen Annahmen verleiten, dieser Organismus könne sich sicherlich selbst regulieren – es brauchte hier keines Zutuns des Menschen.
Was die Hypothese der Hyperintelligenz angeht: Das lehne ich rundweg ab. Diese Hypothese geht von einer falschen Hypothese der Evolution aus, denn Evolution ist nicht zielgerichtet, schon gar nicht ist Evolution darauf ausgerichtet, „Intelligenz“ hervorzubringen und zu steigern. Diese „metaphysisches“ (oder: esoterische) Interpretation von Evolution ist einfach falsch, der Publizist und Philosoph Richard David Precht setzt sich damit überzeugend in seinem Bestseller Scrum auseinander. Precht rechnet in seinem Buch sehr schlüssig mit dem Post- und Transhumanismus ab, wo der Mensch nur noch als „Steigbügelhalter“ für super- und hyperintelligente Wesen fungiert.
Ich lehne die Hypothese der Hyperintelligenz auch deshalb ab, weil Sie einen Determinismus nahelegt, den es nicht gibt. Es ist ein Determinismus, der dem Technik-Determinismus des Silicon Valley sehr vergleichbar ist (Motto: Es wird gemacht, was machbar ist). Ich halte das für eine problematische Idee, die der Selbstbestimmtheit von Bürgergesellschaften den Boden unter den Füßen wegzieht. Mag Lovelock noch so positive Absichten damit verbinden … .
„Novozän. Das kommende Zeitalter der Hyperintelligenz“ von James Lovelock, Erscheinungsjahr 2018 (im englischen Original), C.H. Beck Verlag, 150 Seiten.