Das Buch adressiert eine der großen gesellschaftspolitischen Herausforderungen, nämlich das zunehmende Auseinanderdriften der – vereinfacht gesprochen – „urbanen Lebensräume mit einer prosperierenden Tech Industrie“ („High Tech America“) einerseits, und den von „Stadtflucht ausgetrockneten ländlichen Gebieten mit den Globalisierungs- und Automatisierungsverlierern“ („Rural America“). Der Autor bringt das Problem mit wenigen Zahlen auf den Punkt: “In 2016, 75 Percent of venture funding went to Silicon Valley, New York City, and Boston, with 50 Percent going just to Silicon Valley. Venture funding in Tennessee that same year was less than 1 percent of the total pool invested.” (S. 69).

“Reprogramming the American Dream. From Rural America to Silicon Valley – Making AI serve us all“ von Kevin Scott with Greg Shaw, HarpinCollins Publishers, 260 Seiten, Erscheinungsjahr 2020, 19 Euro für die Gebundene Ausgabe

Kevin Scott ist keineswegs der Erste, der auf dieses Problem hinweist. Der Autor Phil A. Neel hat mit seinem Buch “Hinterland: America’s New Lanscape of Class and Conflict” (Erscheinungsjahr 2018) bereits eine Analyse dieses Auseinanderdriftens von Lebensrealitäten vorgelegt.

Kevin Scott versucht mit seinem Buch sicherlich auch anzuknüpfen an die „große Erzählung von der Game Changing Technologie“ in der Tradition des Bestsellers ”Das neue Digitale Zeitalter“ (2013) des damaligen Google-Chairmans Eric Schmidt. Der Titel des Buches (“Reprogramming the American Dream”) legt die Latte ja ziemlich hoch, und der Leser stößt auf Sätze wie ”The untold story of the tech industry over the past fifteen years is the extent to which we’ve put incredibly powerful technology – in the form of open source and open Internet, cloud platforms, and AI frameworks – into the hands of a broader group of developers, builders, and entrepreneurs than ever before in human history.” (S. 79f). Nun, das Buch leistet einen interessanten Beitrag zu einem wichtigen Diskurs, aber es wäre übertrieben zu behaupten, dass mit diesem Buch eine Erzählung von visionärer Strahlkraft gelungen wäre. Denn Kevin Scott stößt hier nicht etwa eine Debatte (neu) an, sondern leistet vor allem einen Beitrag zu einer Debatte, die längst begonnen hat.

Das Buch ist im Übrigen auch indirekt eine Antwort auf den Wahlsieg Trumps in 2016, den dieser ja nicht zuletzt in „Rural America“ gewonnen hat; hier finden sich zahlreiche Verlierer von Globalisierung und Automatisierung. Populistische Politiker wie Trump scheuen – wie die Regierungsjahre unter dem 45ten Präsident der Vereinigten Staaten zeigen – vor einer Politik nicht zurück, die Ängsten gegenüber Globalisierung entgegenkommt; und vielleicht bald auch Ängsten gegenüber Technologien wie KI. Der Oxford Ökonom Carl-Benedikt Frey hat den Zusammenhang zwischen Technologischem Fortschritt und politischer Zustimmung in seinem Buch ”The Technology Trap” sehr gut herausgearbeitet. Die Tech Industrie hat mithin ein starkes Interesse daran, den Technologischen Strukturwandel so zu gestalten, dass es gute Antworten für die „Verlierer“ gibt. Auch in diesem Sinne ist das vorliegende Buch zu verstehen.

Reprogramming the American Dream: Herausforderung und Antworten

”What is rural? – It’s what you have to drive through to get to the city.”

Dieser Witz wird auf einer der Konferenzen zur ländlichen Entwicklung gemacht, die der Autor besucht – aber niemand hätte gelacht. Kein Wunder, das Problem ist ernst, bisweilen dramatisch. Der Autor lässt einige Redner und Gesprächspartner zu Wort kommen, welche die Situation auf dem Land beschreiben: (…) Heather Stafford, director of adult education in Siskiyou County, California, takes the podium and gets right to the point. In many states with large rural populations, the middle class is made up of truck drivers, and AI-driven trucks are going to put them out of work. She lists the barriers to upward mobility, including drug and alcohol problems, mental health problems, lack of skills, limited expertise, limited broadband, and food deserts.” (S. 81) Ein Unternehmer wiederum stellt nüchtern fest: ”I can’t find people who can run a spreadsheet. Everything comes from away. Our skill set in the Gorge is just a long way from AI and robotics.” (S. 84)

Das Buch skizziert Antworten: Steuerliche Incentivierung für Investitionen im ländlichen Raum. Unternehmerische Investitionen aus einem Zusammenspiel zwischen Investoren und Staat. Und natürlich Technologie für eine effiziente und profitable Landwirtschaft. Stichwort „Intelligent Farming“: Roboter die optimal für Bewässerung, Düngung, die optimalen Zeitpunkte für Aussaat und Ernte sorgen undsoweiter. Der Autor sieht Arbeitsplätze nicht nur für top-ausgebildete Fachkräfte, sondern auch für medium- und low-skilled Arbeiter. Das reicht von denjenigen, die Roboter betreiben und warten bis hin zu Drohnenpiloten, die in der Landwirtschaft eingesetzt werden, für die Bekämpfung von Wald-/Steppenbränden, Fischzucht, Waldbewirtschaftung und derlei mehr.

Interessant ist die These, die sogenannte „Minimum Viable Economic Unit“ für landwirtschaftliche Betriebe, ließe sich mit KI tatsächlich reduzieren. Das heißt: Ein landwirtschaftlicher Betrieb ist aufgrund erforderlicher Mindest-Investitionen und einer Grundlast an Tätigkeiten nicht erst ab einer Bewirtschaftung 400 bis 600 Hektar nachhaltig profitabel, sondern deutlich darunter. Was zu beweisen wäre, Kevin Scott präsentiert diese These ebenfalls vorsichtig als „theory“.

Der Autor formuliert einige Appelle an Politik und die Digitalindustrie, damit sichergestellt ist, dass die KI-Technologie dem ländlichen Raum zugutekommt. KI-Plattformen dürften nicht nur für die Bedürfnisse von großen Digitalkonzernen ausgelegt sein, sondern müssten auch kleine Unternehmen im Blick haben. Je mehr Entwickler sich am Aufbau der KI-Plattformen beteiligen – so die Vermutung von Scott – desto wahrscheinlich ist es, dass diese diversen Interessenlagen in die Architektur der KI-Plattformen einfließen. Und natürlich Bildung: Die Nutzung von KI geht nicht ohne Knowhow; damit lokale Unternehmen KI nutzen können, braucht es eine gemeinsame Anstrengung von Community Colleges, Universitäten und Inkubatorenprogrammen. Scott fordert auch, das Trainieren von KI-Algorithmen, das „Customizing“ an spezifische Anforderungen müsste noch deutlich einfacher möglich sein, damit KI Breitenwirkung erreichen kann. Und es brauche Investitionen in die Infrastruktur, ohne die KI im ländlichen Raum nicht in Gang gebracht werden kann: Als Beispiel nennt er Hochgeschwindigkeitsnetzwerke.

Es ist nicht verwunderlich, dass Kevin Scott ein riesiges Potential in Künstlicher Intelligenz sieht – er ist CTO von Microsoft: KI kann den (Erwerbs)Menschen von unschöner, monotoner, gefährlicher Arbeit entlasten und erlaubt, sich auf die interessanteren, erfüllenderen Aufgaben zu fokussieren. Und: “AI also has the very real potential to (…) to unlock human creativity in unprecedented ways.“ (S. 251) Der Autor Scott sieht auch eine Chance für das Entstehen bzw. Prosperieren vieler kleiner und mittelständischer (Produktions)Unternehmen: Die Unternehmensprozesse “product development-to-manufacturing-to-marketing-to-distribution“ erfordern keine Großunternehmensstrukturen mehr, sondern lassen sich mithilfe von KI (etwa in Verbindung mit 3D-Druckern, Robotik) auch von KMU effizient und wettbewerbsfähig bewältigen. Und natürlich, es müssen darum gehen, KI nicht nur für Kosteneinsparungen einzusetzen, sondern kreative Energien freizusetzen.

Und eben dies ist die Kernfrage: Ist dies der Entwicklungspfad in der Realität? – Ein Selbstläufer ist das jedenfalls nicht. Die Ökonomen (und Nobelpreisträger) Esther Duflo und Abhijit V. Banerjee schreiben in ihrem Buch ”Gute Ökonomie für harte Zeiten (Erscheinungsjahr 2019)”: “Ungeachtet der vollmundigen Versprechungen und herausragender Einzelbeispiele wird der Großteil der Ressourcen im Bereich Forschung und Entwicklung heutzutage für maschinelles Lernen und andere Big-Data-Anwendungen verwendet, die bestehende Tätigkeiten automatisieren sollen, anstatt dass man neue Produkte entwickelt, die neue Aufgaben für Arbeitnehmer und damit auch neue Stellen schaffen würde.“ (S. 354). Und die Futuristin Amy Webb zeigt sich in einem Interview in Handelsblatt Disrupt (mit Sebastian Matthes) ernüchtert, dass viel zu wenig „radical experimentation“ stattfinde, es würden zu wenig neue Geschäftsmodelle entwickelt. Die Vision von Kevin Scott ist also keineswegs der natürliche Entwicklungspfad.

Auf ein Problem für seine Vision macht der Autor mehrfach aufmerksam: Wer das Potential von KI erschließen will, muss für da KnowHow sorgen. Er stellt fest, wie sehr Bildungsinstitutionen in „Rural America“ unterfinanziert sind und dieser Aufgabe kaum nachkommen (können). Was Kevin Scott mit anekdotischen Beispielen illustriert, hat der Starökonom Thomas Piketty mit umfangreichem Datenmaterial herausgearbeitet, nämlich eine frappierende Bildungsungerechtigkeit in den USA (vgl. das Buch ”Kapital und Ideologie”): Das Bildungssystem in den USA ist Elite-zentriert, der Zusammenhang zwischen Bildungskarrieren und Einkommen der Eltern ist vollkommen linear. Das Problem lässt sich nicht einfach mit Technologie aus der Welt schaffen, es ist ein Thema politischer Ressourcenverteilung. Es wäre naiv anzunehmen, MOOC (Massive Open Online Courses) seien bereits eine adäquate Antwort auf die herrschende Bildungsungerechtigkeit.

Reprogramming the American Dream: Schlussbemerkung

Während dem Lesen fällt einem hin und wieder diese schöne Metapher ein: Wer einen Hammer hat, für den wird jedes Problem zum Nagel. Es ist nicht ganz verwunderlich, dass für den CTO von Microsoft ein KI-Algorithmus sehr schnell eine naheliegende Lösung ist. Man sollte als Leser hier aber ein wenig kritischen Abstand wahren. Denn brauchen wir wirklich einen Schrittezähler, um einschätzen zu können, ob wir genug Sport machen? Brauchen wir einen KI-Algorithmus, der uns gute Bücher und Artikel vorschlägt, damit wir – in den Worten von Kevin Scott„healthier information serviert bekommen und aus unserer Filter Bubble heraustreten? Ich bezweifle das. Diese Idee von Scott ist auch in gewissem Grad ein Produkt der „Tech Filter Bubble“, in der sich der Autor fast zwangsläufig bewegt.

Es ist aber durchaus bemerkenswert, dass Kevin Scott anerkennt, in welchem Maße der Erfolg von Tech-Konzernen auf staatlichen Vorleistungen basiert (hier klingt ein wenig das Diktum „You didn’t build that“ von Barack Obama an): ”Much of the progress we’ve made building an AI platform, one that can support more people building more ambitious things every year, has been a direct consequence of publicly funded and widely disseminated research.” (S. 5). Und der Autor Scott – wohlgemerkt, als CTO eines Konzerns, der im Wettbewerb selten zimperlich auftritt – erklärt außerdem: ”It is not right if the value created by the development of AI is concentrated solely in the hands of a few elite companies and their companies.” (S. 5) Und im Schlusskapitel Conclusion zitiert Scott aus dem Kultfilm (der Tech-Szene) Star Trek: First Contact folgenden Satz: ”The acquisition of wealth is no longer the driving force in our lives. We work to better ourselves and the rest of humanity.” Man reibt sich ein wenig verwundert die Augen.

Das Buch ist übrigens auch eine Kampfansage an China, ein Appell an Politik und Unternehmen zugleich, im Bereich Künstliche Intelligenz die führende Wirtschaftsmacht zu bleiben (unbestritten kann die USA als Wiege der KI gelten). Dieser Wettbewerb zwischen den beiden Wirtschaftsgroßmächten USA und China im Bereich der KI ist bekannt (vgl. dazu auch den Autor Kai-Fu Lee in “AI-Superpowers. China, Silicon Valley und die Neue Weltordnung“), der Autor Kevin Scott zitiert etwa einen Essay „Killer Apps“ aus 2019 in der Zeitschrift Foreign Affairs. Der Autor erinnert daran, dass der Technologiewettlauf in der Raumfahrt, der in das Apollo-Programm mündete, etwa 200 Mrd. US-Dollar (nach heutiger Kaufkraft) gekostet hätte. Diesen Betrag sollte die Regierung nun auch in ein KI-Programm investieren.

Der Autor Kevin Scott, millionenschwerer CTO von Microsoft (Im Mai 2020 das wertvollste börsengelistete Unternehmen weltweit!) adressiert mit diesem Buch ja vor allem „Rural America“, wo es eine ausgeprägte Skepsis gegenüber Eliten gibt. Der Autor Kevin Scott versucht mit seinem Buch folglich einen tiefen Graben zu überwinden, ihm gelingt das – wie ich finde – durchaus. Seine Sprache ist dezidiert non-akademisch; Der Autor Scott führt nicht etwa Dutzende Statistiken auf, sondern erzählt von persönlichen Begegnungen auf einem Kongress zur Entwicklung von „Rural America“, man sitzt quasi neben dem Autor und verfolgt diese Veranstaltung. Es ist ein Buch, das mit Bildern zu den Lesern spricht. Es ist ein persönliches Buch und ein Buch, das Respekt vor den Menschen in „Rural America“ hat („The folks I know in rural America are some of the hardest working, mot entrepreneurial, cleverest folks around.“).

Hin und wieder stößt man auf Sätze wie “As one of my former bosses used to say … „, anfangs war ich etwas irritiert, bis mir klargeworden ist, dass Kevin Scott sich damit „klein macht“, versucht, näher an seine Leserschaft in „Rural America“ heranzurücken. Die unterschwellige Botschaft ist etwa, „Hey, ich bin auch nur ein Angestellter, der morgens mit seinem Pausenbrot zur Arbeit geht – wie ihr“. Mit gleicher Intention beginnt der Autor auch sein Buch (nach der Einführung) mit einem biographischen Rückblick auf seine Kindheit und ersten Berufsjahre in „Rural America“. Botschaft: „Hey, ich bin einer von Euch, ich weiß wie das ist hier draußen.“

Fazit: Es ist ein gutes Buch, lässt sich gut lesen. Es ist die wichtige Stimme eines Top-Managers aus der Digitalindustrie in der Debatte um die Rolle von KI in der Ökonomie der Zukunft und um die Ausgestaltung einer Gesellschaft und Wirtschaft angesichts einer massiven strukturellen Transformation. Es fällt für mich aber nicht unbedingt in die Kategorie der „Must-Read“.

Author

Der Autor ist Manager in der Softwareindustrie mit internationaler Expertise: Prokurist bei einem der großen Beratungshäuser - Verantwortung für den Aufbau eines IT Entwicklungszentrums am Offshore-Standort Bangalore - Director M&A bei einem Softwarehaus in Berlin.