Bangalore. Als ich selbst bereits eineinhalb Jahre in Indien war (Zweck: Aufbau eines IT Entwicklungszentrums), lernte ich einen gewissen Christian kennen. Das war bei einer Flasche Bier auf einer Abendveranstaltung von Internations. Selbstbewusster Typ, hatte schon als Teenager Geld mit Programmieren verdient, jetzt wollte er mit einer App made in India durchstarten, das Konzept hatte er in der Tasche. Durchgehalten hat er ein halbes Jahr. Dann ist er frustriert nach Manila weitergezogen. Ich glaube, er hatte so ziemlich alles falsch gemacht, was man in Indien falsch machen kann.

Ein paar Tage nach dem Internations Abend haben wir uns nochmal in einem Dachrestaurant auf der Kneipenmeile im Stadtviertel Indiranagar getroffen. Da hat er seinen Masterplan erklärt: Eine App, vier Arbeitspakete. Jedes Arbeitspaket umfasste verschiedene Funktionsmodule. Das Ganze sollte in 3 verschiedenen Technologien umgesetzt werden. Das macht insgesamt 12 Freelancer. Er selbst war Freelancer, es gab keine Gesellschaft, kein Büro, kein Brand. Immerhin, von den 12 Freelancern hatte er Arbeitsproben eingeholt statt nur auf den Lebenslauf zu vertrauen. Bei dem Gespräch war meine Frau übrigens auch dabei, die kennt sich ziemlich gut aus mit der indischen Arbeitskultur. Sie ist aber nicht viel zu Wort gekommen – Christian hat nichts gefragt. Das war kein gutes Zeichen. Fragen ist in Indien eine gute Strategie. Wer mit fertigen Antworten nach Indien kommt, hat eigentlich schon verloren.

Vorweg: Christian hat nicht alles falsch gemacht. Aber zu viel. Die Arbeitsproben der Freelancer waren beispielsweise der richtige Ansatz, denn in Indien kann man auf Lebensläufe als Auswahlkriterium nicht allzu viel geben. Ein deutscher Softwareentwickler aus Berlin fasst das sehr treffend zusammen, wenn er über Vorstellungsgespräche mit Indern sagt: „Indische Entwickler können eigentlich immer alles. Und wenn sie etwas nicht können, dann sind sie sich ganz sicher, dass sie das ganz schnell lernen.“ Kürzlich habe ich zwei Jungunternehmer getroffen, die über mehrere Wochen in der Zusammenarbeit mit einem indischen Freelancer verzweifelt sind, der behauptete, Erfahrung mit der Oracle Datenbank mitzubringen. Es sollte sich herausstellen, dass Oracle für diesen Freelancer absolutes Neuland war. Keine untypische Erfahrung. Zum Vergleich: In unserem IT Entwicklungszentrum durchläuft ein Bewerber einen vierstufigen Auswahlprozess, inklusive Praxistest.

Der wesentliche Schwachpunkt bei Christians Masterplan bestand darin, das Entwicklungsprojekt mit einem virtuellen Team aufzusetzen – aus mehreren Gründen. Gute Entwickler können sich in Indien Ihren Arbeitgeber aussuchen. Sie werden zum besten Arbeitgeber gehen – das muss nicht zwangsläufig eine Firma mit dem Namen Microsoft oder Cap Gemini sein, aber ein Arbeitgeber mit Perspektive, oder wenigstens mit einer außergewöhnlichen Bezahlung. Warum sollte ein guter Entwickler für einen deutschen Nomaden mit Business Plan in Vorleistung gehen, darauf hoffend, dass seine Leistung am Ende fair bewertet und bezahlt wird? Warum sollte andererseits Christian einem Inder eine Anzahlung machen, der schon am nächsten Tag nicht mehr ans Telefon gehen könnte? Wie hoch ist also die Wahrscheinlichkeit, dass Christian einen guten Entwickler findet?

Die indische IT Industrie funktioniert im Übrigen auch deshalb so gut, weil Sie den Millionen von IT Professionals einen Arbeitstakt vorgibt – so merkwürdig das zunächst klingen mag. Eine Stadt wie Bangalore wird von Hunderten firmeneigenen Taxen und Bussen durchkreuzt, die auf verschiedenen Routen die Konzernmitarbeiter einsammelt, so dass diese pünktlich zur Arbeit erscheinen. Morgens und nachmittags gibt’s eine Teepause (in manchen Firmen wird das Licht ausgemacht). Auch in dem von mir gegründeten IT Entwicklungszentrum gibt es feste Kernarbeitszeiten, für deren Einhaltung wir uns viel einfallen lassen mussten, aber es ist wichtig zur Aufrechterhaltung der Arbeitsdisziplin. Zudem ist ein konstantes Monitoring üblich, CCTVs (=Überwachungskameras) sind in vielen Lebensbereichen Indiens die Norm, in Restaurants wie auch im Büro. Ein Großraumbüro mit einem gewissen Maß an sozialer Kontrolle ist die Regel. All das ist mit Freelancern nicht möglich. Doch gerade in Indien ist Micro-Management, enges Projektmanagement entscheidend für den Erfolg von Projekten.

Betrachten wir noch einen letzten Aspekt der beschriebenen Konstellation: Die „alte“ IT Industrie Indiens waren reine Coding Shops, in detaillierten Lastenheften wurde Form, Farbe und Funktion jedes Knopfs vorgegeben; wenn die Funktion nicht beschrieben wurde, gab es eben nur den Knopf. Sonst nichts. Diese Herangehensweise hatte kein Mitdenken gefördert, schon gar keine Übernahme von gesamtheitlicher Verantwortung; die streng hierarchische Struktur Indiens verstärkte dies zusätzlich. Es ist nicht überraschend, dass oft gejammert wird, in Indien denke keiner mit. Unternehmen wie Bosch verzweifelten daran – früher. Dann stellten sie ihre Herangehensweise um, gleichzeitig arbeitete sich die indische IT Industrie in der Wertschöpfungskette vom Coding Shop zum Vollservicedienstleister inklusive Softwarearchitektur und Beratung hoch. Inder können nämlich sehr wohl denken. Mitdenken und gesamtheitliche Verantwortung können aber nur in der richtigen Umgebung gedeihen. Auch in unserem mittelständischen IT Entwicklungszentrum fördern wir Projektverantwortung von Anfang an, schon für die Trainees. Wir fördern Kommunikation untereinander. Intelligente Prozesse statt Hierarchien.

Nun können Sie sich vorstellen, dass in einem virtuellen Team von 12 Freelancern gesamtheitliche Verantwortung niemals entstehen kann. Zudem kann sich eine Kommunikation zwischen dem Team kaum entwickeln: Zwischen 12 Freelancern, die über das Stadtgebiet einer 14-Millionen-Metropole verteilt sind, mit Entwicklern aus Kerala (Muttersprache: Malayalam), Andra Pradesh (Telugu), Maharashtra (Marati, Hindi) oder Tamil Nadu (Tamil). Ein Alptraum. Das Projekt war zum Scheitern verurteilt. Es ist in etwa so, als ob man mit 20 Ingenieuren ein Auto konstruieren wollte, die je an unterschiedlichen Orten mit einer Bauplanskizze ihre Komponenten fertigen, und am Ende will man alle Bauteile zu einem funktionierenden Fahrzeug zusammensetzen.

Fazit: Es war richtig nach Indien zu kommen. Denn wer mit Indern Geschäfte machen will, muss eine Beziehung aufbauen. Wenn man vor Ort ist, dann geht die Arbeit aber erst los. Das dürfte übrigens in Manila nicht anders sein.

Author

Der Autor ist Manager in der Softwareindustrie mit internationaler Expertise: Prokurist bei einem der großen Beratungshäuser - Verantwortung für den Aufbau eines IT Entwicklungszentrums am Offshore-Standort Bangalore - Director M&A bei einem Softwarehaus in Berlin.