”The genetic lottery. Why DNA matters for social equality“, von Kathryn Page Harden, Oktober 2022, Princeton University Press, 300 Seiten, 17 Euro (Taschenbuch, Englische Ausgabe)
Dass Gene einen großen Einfluss auf unsere Lebensumstände haben, das bezweifelt heute kaum noch jemand. Aber wie groß ist dieser Einfluss tatsächlich? Und: Welche (ethischen) Konsequenzen ziehen wir daraus, gerade im Hinblick auf das Thema (Chancen-/Leistungs-/Anstrengungs-)Gerechtigkeit?
Genau darum geht’s in diesem Buch von der Ausnahme-Akademikerin Kathryn Page Harden, Professorin an der Universität Austin in Texas.
Die Autorin schafft eine sehr gute Grundlage, die wissenschaftlichen Erkenntnisse rund um genetische Forschung einschätzen und bewerten zu können. Sie vermittelt Einblicke in Methoden, und es gelingt ihr, ein quantitatives Verständnis (mindestens: intuitives Verständnis) zu statistischen Aussagen bei ihren Lesern zu entwickeln. Aussagen zu Korrelationen von genetischen Veranlagungen zu in der Realität gemessenen Ergebnisgrößen kann man so sinnvoll einordnen; sie setzt eben solche statistischen Aussagen auch ins Verhältnis zu statistischen Zusammenhängen, bei denen wir Alltags-Erfahrung mitbringen.
Und die Autorin geht ebenfalls der Frage nach, wie etwa aus Gerechtigkeits-theoretischer Sicht die Antwort auf diese unterschiedlichen Ausgangsbedingungen sein könnte.
Der Einfluss der Gene. Wie groß ist der Einfluss wirklich?
Wussten Sie, dass die Einschätzung des Ottonormalverbrauchers zur (vermuteten) Erblichkeit von Krankheiten und Eigenschaften wie Intelligenz oder politische Überzeugungen ziemlich nah an den wissenschaftlich fundierten Aussagen zur Erblichkeit liegen? „Politische Überzeugungen“ sind eher nicht erblich; musisches Talent schon eher, hier liegt die Erblichkeit nach wissenschaftlichen Quellen in der Größenordnung von 47%. Blutdruck übrigens auch in der gleichen Größenordnung oder die Neigung zu Depression. Intelligenz? – Etwa bei 62% … und Blutgruppe? – Sie ahnen es, ja, sehr hoch: 100%.
Als Grundregel gilt: Es gibt nicht das „einzelne Erfolgsgen“ oder „Musikgen“. Bei vereinzelten Krankheitsbildern mag noch ein einzelnes Gen (bzw. ein Gendefekt) verantwortlich sein; für Eigenschaften wie Fleiß oder Lernbereitschaft gilt dies nicht. In einer großen Studie aus dem Jahr 2018 wurden etwa 1.271 Stellen im Erbgut identifiziert, die einen Einfluss haben auf Bildungschancen. Weil jeweils „viele“ Gene für Eigenschaften relevant sind, die etwa auf Bildungschancen Einfluss nehmen, spricht man vom „poly“-genic index (Deutsch: Polygenetischen Score).
Bei dieser 2018 Studie ließ sich ein statistischer Zusammenhang zwischen diesem „polygenic index“ und Bildungserfolg herstellen, der wie folgt ausfiel: Bei niedrigem polygenic index hatten Studienteilnehmer mit einer Wahrscheinlichkeit von 12% einen Hochschulabschluss absolviert; bei hohem polcgenic index waren 57% Universitätsabsolventen.
Auch die Größe eines Menschen ist stark erblich, zu etwa 80%. Es ist ein gutes Beispiel, wie komplex das Zusammenspiel der verschiedenen Stellen im Erbgut aber tatsächlich ist. Es sind insgesamt 2.910 Stellen im Erbgut, die auf Größe Einfluss nehmen. Diese Stellen nennt man übrigens „single nucleotide polymorphism“ (abgekürzt: SNP). Die Verteilung von SNP entspricht dabei einer Glockenkurve, einer klassischen Verteilungskurve. Vergleiche nachfolgende Verteilung unter 1.020 Personen:
Source: https://www.hindawi.com/journals/ijg/2018/5121540/
Ganz rechts, dort weist ein Pfeil auf einen „Ausreißer“ hin. Es handelt sich dabei um Shawn Bradley, der die äußerst beeindruckende Größe von 229 cm aufweist.
Und hier noch eine wirklich beeindruckende statistische Gesetzmäßigkeit: Das Erbgut von Vater und Mutter wird bei jedem Kind völlig neu (sic!!) zusammen gemischt. Und die kombinatorische Vielfalt aus dem Erbgut zweier Elternteile liegt bei sagenhaften 70 Billionen … also: 70.000.000.000.000. Daraus leitet sich auch (unter anderem) der Titel des Buches ab: „the genetic lottery“.
Was heißt das für Gleichberechtigung?
Der Philosoph John Rawls sprach in seinem Standardwerk A Theroy of Justice bereits von ”two lotteries of birth: the natural and the social”. In diesem Buch formuliert Rawls die Forderung, die Regeln für das Zusammenleben in der Gesellschaft müssten so ausgelegt sein, dass diese unterschiedlichen Ausgangsbedingungen keine Rolle spielten – ein nicht ganz einfach einzulösender Anspruch.
Gerade die Auseinandersetzung mit dem Faktor „Genetische Veranlagung“ ist in unserer Gesellschaft problematisch, ganz wesentlichen aufgrund der schwarzen Kapitel in der Menschheitsgeschichte zu Eugenik: Sowohl Deutschland (Drittes Reich), als auch Länder wie die USA haben hier eine Vergangenheit, die schwer auf dem aktuellen Diskurs zu diesem Thema lastet.
Gerade auch weil Forschung rund um Genetik von rechtsnationalen Gruppierungen zur Begründung der Überlegenheit der weissen „Rasse“ herangezogen wird, gibt es die Verlockung, solche genetischen Unterschiede auszublenden, zu verleugnen. So erklärte etwa auch Bill Clinton angesichts des Human Genome Projekts:
“All of us are created equal, entitled to equal treatment under the law … I believe one of the great truths to emerge from this triumphant expedition inside the human genome is that in genetic terms, all human beings, regardless of race, are more than 99.9 percent the same
Worauf die Autorin Kathryn Page Harden hinaus will, illustriert nachfolgendes Bild sehr treffend:
Quelle: https://interactioninstitute.org/illustrating-equality-vs-equity/
Page Harden beschreibt in ihrem Buch etwa ein Erziehungs-/Aufklärungsprojekt, das gerade bei Kindern mit genetischer Veranlagung zu Übergewichtigkeit große Erfolge erzielte. Dazu schreibt sie: “For people who didn’t experience the reform, the one-third of people who had the highest genetic risk had a 20% greater risk of being overweigth or obese than those who had the lowest genetic risk. After the reform [also: das Erziehungs-/Aufklärungsprojekt], that gap shrank to just 6 percent.“(page 165)
Ein ähnliche erfolgreiches Projekt resultierte zu folgendem Ergebnis: “people with a higher polygenic index had more alcohol problems, on average. But among people whose families had received the intervention, the genetic effect was switched off – there was no association between genetic risk and alcohol problems.” (page 165)
Es ist aber ganz und gar nicht einfach, solche Projektdesigns zu entwickeln, die für ausgleichende Gerechtigkeit bei unterschiedlichen genetischen Ausgangsbedingungen. Häufig greift der „Matthäus-Effekt“, also: Wer hat, dem wird gegeben. Die Autorin schreibt: “Summer school programs, for instance, tend to benefit children from middle-class families more than ones from poor families.”(page 167)
Schlussbemerkung
Auch die Wirtschaftswoche ist auf das Buch und die Ausnahme-Wissenschaftlerin aufmerksam geworden; Julian Heissler hat die Professorin interviewt und in der WiWo-Ausgabe vom 6.4.2023 einen Artikel zu Ihrem Buch und Ihrem Forschungsgegenstand veröffentlicht. Kathryn Page Harden stellt hier Folgendes klar:
“‘Gene bestimmen nichts. Aber sie können durchaus einen Unterschied machen‘, sagt sie. (…) Sie kam zu dem Schluss, dass Charaktereigenschaften wie Fleiß oder Lernbereitschaft zum großen Teil genetisch veranlagt sind und gleichzeitig stark mit akademischer Leistung in Verbindung gebracht werden. Doch die Veranlagung allein reicht nicht. Ohne die richtige Förderung, die richtigen Umstände wie etwa passende Bildungsangebote oder ein stimulierendes Umfeld lassen sich diese Vorteile nicht ausspielen, werden Kinder ihr Stärken nicht entwickeln. Im Umkehrschluss verdammt das Fehlen von bestimmten Veranlagungen nicht zu einem Leben in Armut und Erfolgslosigkeit.“
Das Teaser Bild habe ich mithilfe von Midjourney.ai erstellt; und zwar mit folgendem Prompt: “Combined the results of every woman image generated on Midjourney into one image of a woman –v 4 –no clothing –no clothes –no coverings” (vor 5 Monaten)
Bonusmaterial: Wie gut kennt die App “learnsmarter.ai“ das Buch?
Sie haben bestimmt schon mal AI-Tools wie www.humata.ai ausprobiert (funktioniert auch mit ChatGPT): Sie laden einen Artikel, ein Whitepaper oder eine Abhandlung hoch … und dann können Sie dem Chatbot Fragen dazu stellen, eine Zusammenfassung generieren etcetera. Tolle Sache.
Nun bin ich jüngst auf folgende App gestoßen: www.learnsmarter.ai. Der Claim: Man erhält eine Zusammenfassung zu einem (beliebigen) Buch, kann dazu Fragen stellen. Das habe ich gleich ausprobiert:
Mein Fazit: Ich war enttäuscht. Meine Fragen wurden meines Erachtens nicht richtig beantwortet, die Antworten waren zu generisch – und eben leider auch falsch.