Der Buchtitel klingt geradezu vermessen, der Autor legt die Latte also ziemlich hoch. Aber tatsächlich löst der Autor Vaclav Smil das Versprechen des Titels ein: Das Buch gehört zu den 10 besten (Sach)Büchern, die ich in den letzten 10 Jahren gelesen habe.
„How the world really works” von Vaclav Smil, Oktober 2022, Penguin Verlag, 230 Seiten + 50 Seiten Quellenverzeichnis, 12 Euro als Taschenbuch
Das Buch gehört meines Erachtens zur Pflichtlektüre all jener, die sich am Diskurs beteiligen zu „Grüner Wirtschaft“, zu „Energiewende“, kurz: am Diskurs zur Erreichung von CO2-Neutralität (Zielsetzung Deutschland: 2045). Der Autor analysiert die Energieströme/-bedarfe unserer Gesellschaft / Wirtschaft mit einer beeindruckenden Systematik, Tiefe (Detailgenauigkeit) und Breite (Abdeckung der Lebensbereiche), und zwar mit Fokus auf die Bedeutung fossiler Rohstoffe. Nota Bene: Das Buch umfasst allein 50 Seiten (!) an Quellenangaben. Was dem Autor gelingt: Trotz einer sehr hohen Fakten- und Zahlendichte bleibt das Buch (wie ich finde) gut lesbar.
Der geneigte Leser muss allerdings gleich zu Beginn der Lektüre eine bittere Pille schlucken: “Complete decarbonization of the global economy by 2050 is now conceivable only at the cost of unthinkable global economic retreat, or as a result of extraordinarily rapid transformation relying on near-miraculous technical advances.”
Wer nach diesem ernüchternden Auftakt die vielfach verblüffende Entdeckungsreise durch zentrale Lebens-/Wirtschaftsbereiche macht, kann diese provokante Aussage schließlich nachvollziehen. Was den (unterhaltsamen) Stil des Autors kennzeichnet: er serviert nicht einfach trocken den Energiebedarf von Zement, Stahl oder auch Gewächshaus-Tomaten aus Spanien. Nein. Der Autor nimmt den staunenden Leser zunächst auf eine Zeitreise mit und macht greifbar, welche Produktivitätssprünge die Menschheit in verschiedensten Bereichen durch den Einsatz (vor allem fossiler) Energien gemacht hat.
Beispiel Landwirtschaft: Vaclav Smil führt entlang der wichtigsten Meilensteine durch die Veränderung beim Anbau des zentralen Lebensmittels Weizen. Das Fazit: ”In two centures [von 1801 bis 2021], the human labor to produce a kilogram of American wheat was reduced from 10 minutes to less than two seconds.” (p. 51) Hier wird schnell greifbar, was mit “Grüner Revolution” gemeint ist: Von 600 auf 2 Sekunden, das entspricht einem Faktor von 300 (!).
Und im Bereich Lebensmittelerzeugung betrachten wir etwas später die Energiebilanz bzw. den Energiebedarf weiterer Lebensmittel. Der Autor hat zwecks besserer Illustration die verschiedenen Energieformen (die im Verlauf der Lebensmittelproduktion eingehen) vereinheitlicht und drückt das über die Energiemenge von Diesel aus. Hier eine Auswahl:
- Weizen: 100ml Diesel pro Kilogramm
- Bauernbrot: 200ml Diesel pro Kilogramm
- Hühnchenfleisch: 200 bis 1.000ml Diesel pro Kilogramm; die Energiebilanz ist hierbei stark abhängig vom Futtermittel (z.B. importiertes Soja aus Brasilien vs. Regen-bewässertes Weizen aus dem Inland)
- Tomaten: 150ml Diesel (unbeheiztes Gewächshaus) vs. 500 ml Diesel (beheiztes Gewächshaus) pro Kilogramm Tomaten
Bei Tomaten dekliniert der Autor zudem den Transport von Tomaten aus spanischen Gewächshäusern (wo der Großteil der in Europa konsumierten Tomaten produziert wird) nach Skandinavien durch, also inklusive 3.700 Kilometern Transport: “This means that when we bought in a Scandinavian supermarket, tomatoes from Almeria’s [in Spanien] heated plastic greenhouses have a stunninghly high embedded production and transportation energy cost. Its total is equivalent to about 650ml, or more than five tablespoons of diesel fuel per medium-sized (125g) tomato! (p. 61)
Das Fazit am Ende des Kapitels zur Lebensmittelerzeugung: For now, and for the foreseeable future, we cannot feed the world without relying on fossil fuels.” (p. 55).
Natürlich betrachtet der Autor nicht allein der Bereich der Lebensmittelerzeugung; eine Übersicht zu den Buchkapiteln lässt gut erkennen, in welcher Breite der Lebens- /Wirtschaftsbereiche Smil seine Analyse durchführt:
- Energy: Fuels and Electricity
- Food Production: Eating Fossil Fuels
- Our Material World: The Four pillars of Modern Civilization (steel, ammonia, plastics, concrete)
- Globalization: Engines, Microchips, and Beyond
- Risks: From Viruses to Diets to Solar Flares
- Environment: The Only Biosphere we have
- Future: Between Apocalypse and Singularity
Und hier noch ein paar Zahlen aus Vaclav Smil‘s Buch, die ein Gefühl für den Materialbedarf unserer modernen Zivilisation geben bzw. für die Herausforderung einer De-Karbonisierung: Der jährliche Bedarf / Verbrauch dessen, was der Autor die „4 Grundpfeiler der Zivilisation“ nennt: 4,5 Milliarden Tonnen Zement (Energiebedarf: ca. 8% der gesamten Primärenergie), 1,8 Milliarden Tonnen Stahl (Energiebedarf: ca. 6% der gesamten Primärenergie), 370 Mio. Tonnen Plastik, 150 Mio. Tonnen Ammoniak (v.a. in der Landwirtschaft). Kaum verblüffend: ein wesentlicher Treiber der Verbrauchsdynamik ist China verortet. Wussten Sie: In nur zwei Jahren (2018, 2019) wurde in China so viel Zement hergestellt (und: verbraucht) wie in den USA während des gesamten 20ten Jahrhunderts, nämlich: ca. 4,5 Milliarden Tonnen.
Und zur Elektromobilitätswende folgende Zahlen: Weltweit werden ca. 100 Mio. PKW jährlich produziert. Für die Lithium-Ionen-Batterie (450 kg) eines E-Fahrzeugs sind Rohstoffe erforderlich, die aus rund 40 Tonnen Erzen gewonnen werden; die 40 Tonnen Erze wiederum erfordern die Extraktion und Verarbeitung von insgesamt 225 Tonnen an Rohmaterial. Für die jährliche PKW-Produktion sind folglich Extraktion und Verarbeitung von 100.000.000 * 225 Tonnen an Rohmaterial erforderlich, also 22,5 Milliarden Tonnen. Jährlich!
Damit diese Zahl nicht zu abstrakt bleibt: Es gibt in Deutschland den „Monte Kali“ (in der Nähe der Kleinstadt Heringen, Hessen). Es handelt sich dabei um den größten künstlichen Berg Deutschlands, mit einer Höhe von ca. 520 Metern. De facto ist das eine riesige Abraumhalde, die beim Abbau von Kalisalz seit 1976 (!) aufgewachsen ist. Die Masse dieses „Monte Kali“ beträgt etwa 236 Mio. Tonnen, jede Stunde kommen weitere 1 000 Tonnen Kalisalz-Abfälle hinzu.
Nimmt man nun diesen „Monte Kali“ als Referenz, dann lässt sich formulieren: Die 22,5 Milliarden Tonnen an Rohmaterial, die für die erforderliche Menge an Lithium-Ionen-Batterien erforderlich wären, entsprechen rund 100 (!) von diesen „Monte Kali“. Und zwar jährlich!
Der Hinweis auf Recycling-Optionen greift zunächst nicht. Denn der weltweite PKW-Bestand liegt aktuell bei ca. 1,3 Milliarden Fahrzeugen, also dem 13-fachen der aktuellen Jahresproduktion. Umgerechnet als 1 300 Mal den „Monte Kali“ – und der Fahrzeugbestand wächst.
Zum Schluss dieses Blogposts noch die sehr eingängige Erklärung des Autors, weshalb die Luftfahrt auf absehbare Zeit nicht elektrisch sein wird. ”Turbofan engines powering jetliners burn fuel whose energy density is 46 megajoules per kilogram (…), while todays best Li-ion batteries supply less than 300 Wh / kg, more than a 40-fold difference. Admittedly, electric motors are roughly twice as efficient energy converters as gas turbines, and hence the effective density gap is “only” about 20-fold.” (p. 41)
Ein unglaubliches Buch …
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