Es gibt sie schon: Robo Advisor für die private Finanzanlage, Koch-Roboter für die vollautomatische Essenszubereitung und natürlich den Industrieroboter, der die anderen Robos zusammenschraubt. Und wie steht’s mit dem Robo Rechtsberater, Herr Dr. Rückert?

Herr Dr. Tilman Rückert (Zum LinkedIn Profil: hier) begleitet seit rund 20 Jahren als Partner einer Rechtskanzlei komplexe Verträge und Transaktionen von international operierenden Unternehmen. Er verfolgt die Entwicklung der LegalTech Szene seit deren Entstehen. Hier beschreibt er, wo LegalTech heute steht und was wir künftig noch erwarten können.

Sebastian Zang: Haben Sie schon einmal den Service eines LegalTech Unternehmens in Anspruch genommen, etwa eines Entschädigungsportals bei Flugverspätungen oder Zugverspätungen?
Dr. Tilman Rückert: Nein und hoffentlich muss ich das auch nicht so schnell. Aber mein Kanzleipartner Steffen Leicht hat das bei einem ausgefallenen Flug bereits mit Erfolg gemacht und überraschend viel Geld zurückbekommen. Und wir haben einmal eine Fluggesellschaft in die Insolvenz begleitet – die Insolvenz hatte ihre Ursache darin, dass durch die App flightright die Entschädigungszahlungen leicht und daher zahlreich geltend gemacht wurden. Das wurde dann rasch zuviel.

Sebastian Zang: Welches LegalTech Angebot hat Sie in jüngerer Zeit besonders beeindruckt?
Dr. Tilman Rückert: Ich maße mir nicht an, hier einen vollständigen Überblick zu haben. Aber es ist weniger ein bestimmtes Angebot, als vielmehr der professionelle Angang einiger großer Kanzleien. Wir saßen unlängst mit Gerrit Beckhaus zusammen, der den Bereich bei Freshfields verantwortet. Das ist schon ein großer Aufschlag, der dort organisiert wird. Auch die arbeitsrechtlichen Tools bei CMS haben ja frühzeitig einen Standard gesetzt. Zwar haben auch diese Kollegen keine Glaskugel, aber sie haben verstanden, dass man IT-Know-how braucht, das gleichzeitig das Verständnis für die juristischen Besonderheiten mitbringt. Wenn man diese Schnittstellenkompetenz entwickelt, wird man bei allem was kommt, ganz weit vorne sein.

Sebastian Zang: LegalTech ist ja äußerst weit gefasst, es reicht vom Workflowmanagement für Rechtsfälle bis zu KI-gestützter Dokumentenanalyse. Nehmen wir mal die kühnsten Visionen für die Rechtsberatungsdisziplin: Gab es da mal eine Zeit, wo die Branche um die eigene Zukunft gezittert hat?
Dr. Tilman Rückert: „Die Branche“ ist bei Rechtsanwälten ja sehr weit gefasst. Der typische Arbeits-, Verkehrs- oder Mietrechtler hat wenig zu tun mit denjenigen Juristen, die sich um komplizierte Unternehmenskäufe oder Umstrukturierungen kümmern. Nach meinem Gefühl gab es vor circa 10 Jahren vor allem eine diffuse Unsicherheit, was da für Bereiche in die Automatisierung abrutschen könnten. Und tatsächlich haben nicht wenige geglaubt, in 10 Jahren – also heute – müsste man nur Mengen an Daten einscannen lassen und heraus kommt eine rechtliche Analyse, in welcher Tiefe auch immer. Die meisten haben sich um das Thema aber nicht gekümmert und das ist heute noch so.

Sebastian Zang: Gerade im Bereich Sprachmodelle gab es in den letzten Jahren beeindruckende Fortschritte. Zur Messung von Sprachverständnis gibt es ja den sogenannten General Language Understanding Evaluation (GLUE) benchmark: Der Ausgangswert für den Menschen liegt bei 87, und zwischen Mai 2018 und August 2020 haben sich die KI-Systeme zur Verarbeitung natürlicher Sprache von 60 auf 90,6 verbessert und damit bereits den Menschen übertroffen. Der sogenannte SuperGLUE-Benchmark ist eine neue Messung mit schwierigeren Aufgaben zum Sprachverständnis. Als SuperGLUE eingeführt wurde, betrug der Abstand zwischen dem besten Modell und dem Menschen fast 20 Punkte zwischen dem leistungsstärksten KI-Modell und der menschlichen Leistung auf der Bestenliste. In 2021 haben die KI-Modelle von Microsoft und Google die menschliche Leistung übertroffen. Da es in der Rechtsberatung vor allem um Texte geht, müssten doch solche leistungsfähigen Sprachmodelle bald den Robo Rechtsberater hervorbringen, oder?
Dr. Tilman Rückert: Ja, tatsächlich gibt es genau in den Bereichen Fortschritte bei juristischen Unterstützungstools, die man im weiteren Sinne als Texterkennung bezeichnen kann. Dafür sind vor allem Vertragswerke mit ähnlichem Aufbau und ähnlichen Klauseln geeignet, also z.B. Kündigungsklauseln in Arbeitsverträgen, Indexklauseln in Mietverträgen oder ganz allgemein vertragliche Change-of-Control-Klauseln [Anm.: Klauseln, die Kündigungsrechte auslösen, wenn der Eigentümer des Vertragspartners wechselt.]. Hier erkennt die Software die typischen Begriffe, auch in diversen Varianten, und kann sie einer Rechtsfolge zuordnen.

Sebastian Zang: Wo kommt so etwas in der Praxis vor?
Dr. Tilman Rückert: Diese Tools sind vor allem bei der Analyse großer Mengen an Verträgen hilfreich, etwa wenn Sie ein Mietwohnungsportfolie erwerben wollen. Auch die Massenklagen im VW-Abgasskandal wurden so bearbeitet, also durch die Analyse ganzer Sachverhalts- und Textblöcke. Diese Art Software lernt aber vor allem durch die Menge an Daten, also immer neuer Beispiele, die in das System eingegeben werden. Ein ganz anderes Thema ist, ob die Software von sich aus „dazulernt“, also – wir reden ja über Legal Tech – juristische Verknüpfungen herstellen kann, die nicht direkt einprogrammiert wurden. Solch eine echte adaptive Komponente ist mir jedenfalls nicht bekannt.

Sebastian Zang: Wenn Sie heute in die Arbeitspraxis von Rechtsabteilungen schauen, gibt es da noch Potential für Automatisierungen und Effizienzen?
Dr. Tilman Rückert: Es gibt nicht nur für Rechtsabteilungen, sondern für die meisten Unternehmen ein riesiges Potential, weil kaum ein Unternehmen wirklich in der Lage ist, die im – häufig ganz wörtlich – eigenen Keller oder verteilt auf diverse Rechner und Buchhaltungssystem liegenden Daten systematisch zugänglich zu machen. Das verwundert sehr, wenn man bedenkt, dass Daten der begehrteste Rohstoff sind und man noch nicht einmal die eigenen Daten wirklich allumfänglich nutzen kann. Das aber wäre die Voraussetzung dafür, überhaupt erst die meisten der jetzt schon vorhandenen Legal Tech Tools besser nutzen zu können, denn ohne Daten nützt die beste Anwendung nichts.

Sebastian Zang: Gibt’s da noch Potential für neue LegalTech StartUps?
Dr. Tilman Rückert: StartUps brauchen ja ein Produkt und für Produkte gibt es nach wie vor große Anwendungsfelder. LegalTech wird sich weiter dort ausbreiten, wo typische Musterklauseln, Mengen an ähnlichen Sachverhalten oder katalogartige Rechtsfolgen vorherrschen. Das kann, wie oben gesagt, im Arbeitsrecht, bei Verkehrsunfällen, in Unterhaltsfragen oder Mietsachen der Fall sein, wenn die Sachverhalte ohne Besonderheiten und die Summen nicht groß sind. Und da die Klärung solche Sachverhalte durch Apps ja nicht gegen das Rechtsberatungsgesetz verstößt – das hat der Bundesgerichtshof entschieden -, wird das über kurz oder lang billiger ohne Anwalt geklärt werden können. Ob das dann über StartUps oder andere Anbieter – zu denken wäre beispielsweise an juristische Verlage – angeboten wird, wird man sehen.

Sebastian Zang: Wo sehen Sie das größte Potential für LegalTech?
Dr. Tilman Rückert: Wir haben die Erfassung großer Datenmengen angesprochen, das allein ist aber für mich keine KI. KI bedeutet nach meinem Verständnis, dass eine selbstständige Analyse von eingegebenen Daten im Hinblick auf mindestens eine juristische Frage erbracht wird und nicht lediglich ein Erkennen von bestimmten Worten oder Formulierungen. Hilfreich wäre zum Beispiel für international tätige Konzerne juristische Softwareunterstützung, die automatisch regulatorische Rahmenbedingungen jedes Landes in Produktkennzeichnung, AGB und Vertriebsvorschriften umsetzt. Wir kennen Fälle, in denen beispielsweise mit Excel-Listen, Papier und Bleistiften Verpackungen umgestaltet werden, das könnte alles automatisch erfolgen. Es wird eine Summe von Einzelbeispielen sein. Daher ist der richtige Weg, die Unternehmen zu fragen, was sie brauchen.

Sebastian Zang: Wo sehen Sie denn realistische Chancen für den Einsatz von KI in den nächsten 10 Jahren in der Rechtsberatung?
Dr. Tilman Rückert: Das ist die 10.000-Dollar-Frage … Man wird auch hier wieder unterscheiden müssen: Die Kollegen in den Rechtsbereichen, die von Produkten von StartUps oder anderen Anbietern ersetzt werden können, werden stark unter Druck geraten. Das könnte den klassischen Allrounder betreffen, dem das Geschäft von Verkehrsunfällen, leichten Kündigungs- oder Unterhaltsklagen abhandenkommen würde. Anders sehe ich es bei der komplexeren Beratung im Bereich Unternehmensrecht, im Insolvenz- und Sanierungsrecht oder hochwertigen Vertragsrecht. Hier glaube ich nicht, dass KI in diesem engeren Sinn in den nächsten 10 Jahren schon so weit sein wird, den Anwalt nennenswert zu ersetzen. Natürlich gibt es auch da Bereiche wie Due Diligence, Analysen im Kartellrecht oder typische gesellschaftsrechtliche Vorgänge. Aber je weiter weg man davon kommt, desto dünner wird die Luft für LegalTech.

Sebastian Zang: Welche Rolle spielen Software-basierte Workflows, Dokumentenmanagement, Textanalyse-Funktionen und derlei mehr in Ihrem Kanzlei-Alltag?
Dr. Tilman Rückert: Wir hatten einmal ein Tool, das die Vertragserstellung erleichtern sollte, also überall die weibliche Form, wenn eine GmbH Partei ist usw. Das ersetzte klassische Sekretariatsaufgaben, aber wir machen das wieder selbst, weil der Preis die Erleichterung nicht rechtfertigte. Wir haben eine Microsoft-basierte Software, die bei der Text- und Dateifindung sehr gut unterstützt, und wir haben eine eigene Mustersammlung. So machen es in Wahrheit auch die meisten Kollegen in den großen Kanzleien, egal wie umfangreich die Systeme sind und was da alles angeboten wird. Im Kern ist unsere Beratung das Herbeiführen individueller Lösungen, die zwar auf Mustern aufbauen, in denen aber mehrfach das Dokument im Hinblick auf den vorliegenden Einzelfall durchgearbeitet werden muss. Da muss man wissen, wo man den Wissensfundus der Kanzlei, der Kollegen und der Recherchetools wie beck online findet. Und das ist bei uns sicher gestellt.

Sebastian Zang: Welche Funktion würden Sie sich von einem LegalTech Tool wünschen, welche Arbeit würden Sie gerne abgeben? – für diese Antwort können Sie die Frage der Machbarkeit einmal außer Acht lassen.
Dr. Tilman Rückert: Offen gestanden überlasse ich die Mühsal der Bereiche, die einem LegalTech abnehmen, meist unseren MitarbeiterInnen. Ich selbst würde mir eine besser zugängliche Übersicht klassischer juristischer Recherchethemen wünschen. Da irrt man ja häufig in Kommentaren herum, weil diese oft nicht gut kartiert, also mit dem Stichwortregister verlinkt sind. Das ist also ein ganz bescheidener Wunsch, weil das Nachdenken über ein nicht alltägliches Problem eben doch am meisten Spaß bringt.

Sebastian Zang: Lieber Herr Dr. Rückert, besten Dank für diesen Einblick und Ihre Einschätzung! Ihnen und Ihrer Kanzlei weiterhin viel Erfolg und Spaß am Lösen kniffliger juristischer Herausforderungen.

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Der Autor ist Manager in der Softwareindustrie mit internationaler Expertise: Prokurist bei einem der großen Beratungshäuser - Verantwortung für den Aufbau eines IT Entwicklungszentrums am Offshore-Standort Bangalore - Director M&A bei einem Softwarehaus in Berlin.