Laut aktueller Umfrage der Bitkom sehen nur noch 12 Prozent der Unternehmen ihre Existenz durch die Digitalisierung gefährdet, im Vorjahr 2018 waren es noch etwa ein Viertel der befragten Unternehmen. In der breiteren Bevölkerung sieht dies freilich noch anders aus: Etwa 60 Prozent der Deutschen meinen, durch die fortschreitende Digitalisierung würden bestehende Arbeitsplätze abgebaut, über die Hälfte nehmen digitale Innovationen als Gefahr wahr (vgl. Studie von Huawei). Euphorie sieht anders aus, dabei stehen wir zu Beginn einer völlig neuen Ära – vergleichbar dem Beginn des Industriezeitalters.

Was ist also los mit Deutschland, wieso sehen Chinesen vor allem Chancen in der Digitalisierung, während Deutschland im (vermeintlich typisch deutschen) Bedenkenträgertum versinkt? Lässt sich das pauschal auf „the German Angst“ abschieben oder gibt es handfeste Gründe? – Die gibt es. Meiner Meinung vier Hauptgründe.

Erstens, es fehlt Deutschland an Visionären für das digitale Zeitalter. Nichts illustriert dies eindrücklicher als ein allbekannter Vorfall aus dem Jahre 2013: Während Google den weltweiten Bestseller The New Digital Age: Reshaping the Future of People, Nations and Business mit einer Vision für die digitale Zukunft lanciert, erklärte Kanzlerin Merkel, das Internet sei noch Neuland – und zwar zu einem Zeitpunkt, als Amazon in punkto Umsatz schon längst das Traditionsunternehmen OTTO auf dessen Heimatmarkt Deutschland überholt hatte und Facebook bereits 1,2 Milliarden Nutzer aufwies. Selbst 6 Jahre später gibt es keine erkennbare Vision der Politik für ein „digitales Deutschland“ und – auch das muss man konstatieren – auch aus der deutschen Wirtschaftswelt (wo Unternehmen der Old Economy noch klar den DAX dominieren) ist keine Stimme mit spürbarem Einfluss auf die öffentliche Debatte zu vernehmen.

In den Regalen der Buchhändler dominieren in der Rubrik „Digitalisierung“ / „Technischer Fortschritt“ ganz klar Bücher die Debatte, die vor allem Bedenken formulieren. Dazu einige (allbekannte) Beispiele (in Klammern ist der Verkaufsrang von Amazon angegeben, so dass die Reichweite der Botschaften deutlich wird): Das Ende der Demokratie: Wie die künstliche Intelligenz die Politik übernimmt und uns entmündigt der KI-Unternehmerin Yvonne Hofstetter (Verkaufsrang: 220.202), Sie wissen alles. Wie Big Data in unser Leben eindringt und warum wir um unsere Freiheit kämpfen müssen (ebenfalls Hofstetter, Verkaufsrang: 180.289), Homo Deus des Intellektuellen Yuval Harari (Verkaufsrang: 282!). Zu letzterem Buch (es taucht auch in diversen Bestsellerlisten auf): Es ist definitiv keine Utopie, so unterhaltsam und witzig Harari auch schreibt. (Als Beleg hierfür der Kommentar von Sven Waskönig auf ARD ttt, 30. April 2017: „Vielleicht brauchen wir ja düstere Szenarien, wie Hararis Buch ‚Homo Deus‘, um den Mut für neue Utopien zu finden.“)

Einige weitere Beispiele: Cyberkrank von Manfred Spitzer (Verkaufsrang: 19.212) oder auch Die smarte Diktatur von Harald Welzer (Verkaufsrang: 80.954) oder Zukunftsblind: Wie wir die Kontrolle über den Fortschritt verlieren (Verkaufsrang: 18.474). Das Buch Smarte Maschinen stammt zwar von dem Technik-begeisterten Physiker und Technikjournalisten Ulrich Eberl, eine echte Utopie ist dieses Buch aber auch nicht. Eines der wenigen Bücher mit dem Titel Utopie aus deutscher Feder ist das (empfehlenswerte) Buch Jäger, Hirten, Kritiker. Eine Utopie für die digitale Gesellschaft von Richard David Precht (Verkaufsrang: 946). Das Buch ist allerdings auch eher ein Rezeptbuch für den Umgang mit den Herausforderungen der Digitalisierung (nämlich: Bedingungsloses Grundeinkommen) – also mehr Trostpflaster als ein lustvolles „Vorwärts“. Aber immerhin.

Es ist natürlich richtig, dass es eine Reihe von Büchern von Autoren mit positiver Grundhaltung zur Digitalisierung gibt. Nehmen wir „Titelverteidiger. Wie die deutsche Industrie ihre Spitzenposition auch im digitalen Zeitalter sichert“ des Deutschlandchefs von Accenture, Frank Riemensperger; dieses Buch beschreibt die wichtigsten Bausteine der digitalen Zukunft und entwirft eine (Industrie)Strategie für Deutschland. Zu nennen sind auch Bücher wie Digitale Gewinner des Keynote-Speakers und digitalen Unternehmers Dr. Jens-Uwe Meyer oder Digital Offroad (Autoren: Ulf Bosch, Stefan Hentschel, Steffen Kramer). Diese Bücher sind Wegweiser bzw. Orientierungshilfen für eine digitale Transformation von Unternehmen, es handelt sich um Motivationsbücher, Fachbücher, um Ratgeber für die Zielgruppe von Unternehmern; diese Bücher haben hingegen nicht zum Ziel, eine Idee (schon gar nicht: Utopie) für die Gesellschaft der Zukunft zu entwickeln.

Nun mag man einwenden, die hohen Zustimmungsraten in einer Autokratie wie China seien eben das Ergebnis einer Propagandamaschinerie, die rücksichtslos Kritik an unmenschlichen Technik-Utopien unterdrücke; es dürfe niemanden überraschen, wenn in der westlichen Kultur der freien Meinungsäußerung auch berechtigte Kritik vorgetragen werde, wenn Risiken identifiziert werden. Natürlich sollte das niemanden überraschen. Was allerdings überrascht (zumindest mich), ist die Tatsache, dass wir (nach übereinstimmender Einschätzung einer mehrheitlichen Anzahl von Experten) zwar zu Beginn einer neuer technologischen Epoche stehen, aber kaum überzeugende positive Visionen in der öffentlichen Debatte existieren, die den neuen technologischen Möglichkeitenraum bespielen. An einem Beispiel sei dies überspitzt formuliert: Weniger kurzfristig, als eher langfristig könnte sich die Menschheit mithilfe von Robotik und KI vom Joch eintöniger, gefährlicher, unangenehmer Arbeit befreien – Die Reaktion: Hilfe, hier fallen Arbeitsplätze weg. In 200 Jahren, wenn Historiker die Nachrichtenlage der 10er und 20er Jahre auswerten, wird das zum Treppenwitz der Geschichte.

Ich will das nicht kleinreden: Natürlich ergeben sich Risiken, Nebenwirkungen, Gefahren aus Künstlicher Intelligenz bzw. Digitalisierung im Allgemein. Es handelt sich hierbei allerdings um Technologie, um ein Werkzeug. Über den Einsatz dieses Werkzeugs entscheidet die Politik, die Gesellschaft, der Verbraucher. Der Autor Richard David Precht betont dies in seinem vorgenannten Buch immer wieder: Es gibt keinen Technikdeterminismus, die Zukunft ist nicht durch technischen Fortschritt vorgezeichnet, sondern politisch und gesellschaftlich gestaltbar. Precht erinnert immer wieder daran, dass es gilt, Entscheidungen zu treffen: „Wo ist der Einsatz digitaler Technik eine Lebensbereicherung, und wo führt er in die Ödnis?“ (S. 177). Angesichts dieses Gestaltungsvorbehalts der Politik bzw. der Gesellschaft ist die einseitige Überbetonung von Risiken in den Büchern nicht mehr so einfach nachvollziehbar; bei aller Fähigkeit zur Kritik, die wir uns erhalten müssen, brauchen wir eben auch die mutige Gegenstimme, die mit einer positiven Idee für eine digitale Zukunft Gestaltungsvorgaben bzw. –leitplanken für Politik und auch Unternehmen liefert.

Zu diesem Punkt noch einen abschließenden Gedanken: Wer die technische Dynamik einmal 20 oder 30 Jahre weiterdenkt, ist zwangsläufig mit der Erkenntnis konfrontiert, dass eine Vielzahl von Lebensbereichen von erheblichen Umwälzung betroffen sind. Diese vielfältigen (in ihren Wechselwirkungen kaum prognostizierbaren) Umwälzungen zu durchdenken und hierauf eine gesellschaftspolitische Antwort zu geben ist eine enorme Herausforderung (viel einfacher ist es hingegen, Risiken für einzelne Aspekte zu benennen). Immer auch sind politische und wirtschaftliche Interessen betroffen – die Diskussion um Szenarien eines Abbaus von niedrig-qualifizierten Arbeitsplätzen durch den Einsatz von KI gibt einen Vorgeschmack hierauf. Das macht das Skizzierung einer Utopie umso herausfordernder – aber gleichzeitig wird eine positive Utopie umso wichtiger, um die gesamte Gesellschaft für ein mutiges „Vorwärts“ gewinnen zu können (statt in einer Angststarre und Besitzstandswahrungsdebatten zu verharren).

Zweitens, uns Deutschen geht’s sehr gut. Veränderung bedroht den Status Quo. Es ist nicht überraschend, dass gerade ein Land wie China (oder auch: Indien) vor allem die Chancen von Digitalisierung sieht, denn mit dieser digitalen Revolution werden die Karten neu gemischt. Für die Deutschen ist eine solche Angst umso begründeter, als die digitale Revolution heute vor allem das Etikett „made in USA“ trägt: Wir kommunizieren über Smartphones von Apple (oder Samsung), per WhatsApp, Instagram oder Facebook; wir googeln und tindern, wir bestellen über Amazon. Es ist wie eine Invasion. Bislang war die deutsche Lebenswelt von deutschen Unternehmen geprägt: Mit dem Auto von VW, BMW oder Daimler zur Arbeit, Einkaufen bei Aldi und Co, zuhause wird auf einem Siemens-Herd gekocht und mit einer Bosch-Waschmaschine gewaschen. Mit dieser deutschen Heimeligkeit scheint es in der digitalen Ära vorbei zu sein. Das macht Angst.

Es ist aber keineswegs so, dass wir Deutschen kein Talent für digitalen Erfindergeist hätten. Man denke nur an die KI-Legende Sebastian Thrun oder den Pionier Jürgen Schmidhuber, der heute wissenschaftlicher Direktor beim IDSIA ist, einem Schweizer Forschungsinstitut für Künstliche Intelligenz. Und das Buch Titelverteidiger skizziert hierzu im Übrigen durchaus eine schlüssige, mindestens diskussionswürdige Strategie für die deutsche Wirtschaft.

Drittens, auch die Medien neigen zu einer Überbetonung der Negativseiten von Digitalisierung. Es beginnt mit Hollywood. Viele KI-Experten zucken unmerklich zusammen, wenn sie auf den erfolgreichen Blockbuster Terminator angesprochen werden: James Cameron hat dieses Horror-Szenario einer Bedrohung der Menschheit durch KI so bildstark umgesetzt, dass Künstliche Intelligenz bei nicht wenigen zunächst einmal mit eben diesen Ängsten assoziiert wird. Eine düster überzeichnete digitale Zukunft liefert auch Stoff für Filme wie Matrix, Elysium, Stirb Langsam 4.0, I, Robot, Harrison Ford oder auch Who am I?. Versklavung der Menschheit, Firesale, Hackerangriffe und Vieles mehr. Können Sie auch nur zwei Filme nennen, die eine paradiesische digitale Zukunft ausmalen? Man kann es Hollywood nicht verdenken, denn es ist vor allem die Angstlust, die Zuschauer ins Kino lockt.

Was für Hollywood gilt, gilt nicht weniger für die deutsche Presse: „Bad News are good news“. Wenn der exzentrische Silicon-Valley-Entrepreneur Elon Musk warnt, Künstliche Intelligenz sei deutlich gefährlicher als Atomwaffen , dann hallt diese Warnung in der Echokammer der Medien tagelang durch alle Medienformate. Noch medienwirksamer natürlich die Warnung vor dem 3. Weltkrieg durch Künstliche Intelligenz. Das ist durchaus ein ernstzunehmender Appell von Musk an die Politik, aber eine solche Nachricht kann nur ein einzelnes Puzzlestück eines umfassenderen Bildes über eine digitale Zukunft sein.

Wer (zu Recht) den Zweifel äußert, diese Wahrnehmung einer einseitig negativen Medienberichterstattung sei womöglich nur subjektiv, der sei auf eine Studie verwiesen, die der Kommunikationswissenschaftler Hans-Jürgen Arlt für die Otto Brenner Stiftung erarbeitet hat – etwas veraltet zwar, aber das Fazit ist eindeutig: 360 Artikel aus den Jahren 2014 und 2015 aus elf führenden Tages- und Wochenzeitungen hat Arlt untersucht und vor allem Berichte über die negativen Entwicklungen der Arbeit unter den Bedingungen der digitalen Ökonomie gefunden: „Weniger soziale Sicherungen, mehr Konkurrenz, stärkere Kontrolle, Verlust von Arbeitsplätzen.“ Diese negativen Auswirkungen der Digitalisierung, würden zu Recht thematisiert, jedoch in einer einseitigen Weise. Mehr dazu hier.

Die Negativhaltung der Medien hat auch Wolf Lotter, Autor von Innovation. Streitschrift für barrierefreies Denken in einem Online-Artikel pregnant zusammengefasst: Vor Kurzem veröffentlichte die Kommunikationswissenschaftlerin und Wirtschaftswoche-Herausgeberin Miriam Meckel ihr neues Buch mit dem vielsprechenden Titel Mein Kopf gehört mir, in dem sie vor der »schönen neuen Welt des Brainhackings« warnt. Das Werk ist ein Panoptikum an bekannten Dystopien, ein bunter Strauß aus Zukunftsängsten. Daraufhin fragte das Hamburger Nachrichtenmagazin Spiegel: »Wie kommen Schwarzmaler der digitalen Zukunft wie die Autorin Miriam Meckel auf derart absurde Visionen?« Die Antwort darauf ist einfach: Aus dem Spiegel natürlich, der seit den 1950er-Jahren regelmäßig Geschichten vom Untergang der Menschheit und dem Aussterben aller Arbeit durch Roboter, Computer und vermeintliche künstliche Intelligenz publiziert. Mal sind es »e-Bots« (1955), die die Macht übernehmen, während in den Siebzigern Roboter Arbeiter im Blaumann am Kragen packen. »Fortschritt macht arbeitslos«, weiß der Hamburger Magazineur. Das hat sich als konsequente Fehlprognose herausgestellt – was die deutschen Qualitätsmedien nicht von der Panikmache abhält, bis heute.

Viertens, das fehlende Verständnis der Grundlagen von KI (wenigstens intuitiv) öffnet irrationalen Ängsten Tür und Tor. Und wer nicht weiß, wie etwas geht, kann auch nicht mitmachen. Niemand kann Euphorie für die Ausgestaltung einer digitalen Zukunft erwarten, wenn unklar ist, die man überhaupt eine digitale Zukunft macht. KI etwa ist Mathematik, Statistik. Das ist erklärungsbedürftig. Finnland zum Beispiel versucht, seine Bevölkerung mitzunehmen auf diese Reise in die digitale Zukunft, und zwar mithilfe eines kostenfreien Onlinekurses zu Maschinenlernen, Künstlicher Intelligenz. Anders formuliert, mit den Worten von Valerie Mocker (Vorkämpferin für eine Digitalisierung, von der alle profitieren) im Handelsblatt: Die Finnen haben verstanden, dass digitale Mündigkeit Ängste abbaut, Offenheit schafft und zu einer schnelleren Verbreitung neuer Innovationen führt.

Man könnte einwenden, es sei auch für andere Branchen nicht erforderlich, dass die breite Bevölkerung ein technisches Verständnis mitbringe. Wie viele Leute in der Fußgängerzone können das Funktionsprinzip eines Verbrennungsmotors oder eines Elektromotors erklären? Wie genau funktioniert der Auftrieb von Tragflächen beim Flugzeug? – Natürlich kann es nicht das Ziel in einer Volkswirtschaft mit hochspezialisierter Arbeitsteilung sein, dass das Technologieknowhow aller Branchen zum Allgemeinwissen wird. Aller Voraussicht nach wird allerdings Künstliche Intelligenz als Basistechnologie in allen Branchen eingesetzt, und Künstliche Intelligenz wird Umwälzungen in fast allen Lebensbereichen auslösen. Zudem hat noch keine Technologie solche Ängste ausgelöst wie Künstliche Intelligenz, das Hollywood-Szenario einer Weltherrschaft durch Verbrennungsmotoren existiert nicht. Es lohnt sich also, hierzu ein besseres Verständnis zu gewinnen. Künstliche Intelligenz ist keine Magie, die nur die Akteure des Silicon Valley beherrschen. Es ist eine Technik, die man lernen und verstehen kann.

Und noch ein Aspekt kommt hinzu, auf den auch Valerie Mocker hinweist: Digitale Mündigkeit entspricht in digitalen Zeitalter der Alphabetisierung der wirtschaftlichen Dynamik im 20ten Jahrhundert. Hier gilt: „Breite Alphabetisierung war der Schlüssel zu wirtschaftlichem Erfolg. Studien der OECD-Länder zum Zusammenhang von Alphabetisierung und Wirtschaftswachstum im Zeitraum von 1960 bis 1995 zeigen, dass Investitionen in Alphabetisierung und Bildung dreimal so wichtig für das Wirtschaftswachstum der Länder waren wie Investitionen in Kapital.“

Deutschland sollte so bald wie möglich beginnen, diesen Lernprozess zu starten. Nicht nur für wenige Technik-Nerds, sondern für die gesamte Bevölkerung. Das geht, siehe Finnland.

Zum Weiterlesen

Author

Der Autor ist Manager in der Softwareindustrie mit internationaler Expertise: Prokurist bei einem der großen Beratungshäuser - Verantwortung für den Aufbau eines IT Entwicklungszentrums am Offshore-Standort Bangalore - Director M&A bei einem Softwarehaus in Berlin.