Etwa um das Jahr 2008 hatten Amazon und Otto vergleichbare Umsätze im Online-Handel in Deutschland (=Heimatmarkt von Otto). Inzwischen hat Amazon die deutsche und europäische Konkurrenz weit hinter sich gelassen: Im Jahr 2023 wurden 17 Prozent des gesamten Umsatzes im Online-Handel in Deutschland über den Eigenhandel von amazon.de erwirtschaftet, und weitere 43 Prozent über den Amazon.de Marketplace. Damit werden 60% (Vorjahr: 56%) des gesamten Onlineumsatzes in Deutschland über den E-Commerce-Riesen erwirtschaftet. (Quelle: Statista)
Graphisch stellt sich diese Dominanz von Amazon in Deutschland (und vergleichbar in anderen Ländern) wie folgt dar; auch diese Daten stammen von Statista. Die Graphik zeigt das Ranking der Top-10 B2C-Onlineshops für physische Güter nach E-Commerce-Umsatz in Deutschland im Jahr 2023 (diese Zahlen beziehen sich nur auf den eigenhandel von amazon.de, otto.de, etc. – also: ohne den Umsatz über den Marketplace):
Längst wird Amazon als Suchmaschine genutzt bei der Kauf-/Produktsuche. Und wer durch die Lande fährt, sieht immer wieder gigantische Logistikzentren von Amazon: Die Dominanz ist auch in der physischen Welt sichtbar.
Noch vor wenigen Jahren habe ich auf meinem Blog ein klares Bekenntnis veröffentlicht, die „Krake“ Amazon zu meiden und stattdessen die deutschen oder wenigstens die europäischen Player in der Digitalindustrie zu unterstützen: “Ich bin ja der Meinung, wir benötigen European Champions, darum versuche ich bei einer Online-Bestellung immer, zunächst bei OTTO zu bestellen.“. Aber bereits im nächsten Satz schob ich im gleichen Blogbeitrag hinterher, dass sich dieser Vorsatz bisweilen nur mit viel Geduld durchhalten lässt: “Aber zum einen ist das Sortiment dort geringer, zum anderen hinkt der deutsche traditionelle Handelskonzern in punkto Bedienkomfort und Abwicklung sichtlich dem Marktführer hinterher. Das ist bisweilen zum Haare raufen.“.
Da sind wir auch schon mitten im Thema. Es ist ja hinlänglich bekannt, dass europäische Player in der Digitalindustrie in einigen Punkten entscheidende Nachteile haben: Das reicht von schwierigerem Zugang zu Wachstumskapital bis zu herausfordernden Skalierung in einem rechtlich wie sprachlich fragmentierten Europäischen Markt. Dies alles mit der Folge, dass US-Player im Marathon der oligopolistisch-bis-monopolistischen Märkte vielfach das Rennen machen.
Jüngst macht Otto zudem Negativschlagzeilen, im Handelsblatt konnte man jüngst nachlesen: “ Das Ausmaß der Krise lässt sich inzwischen beziffern: Im Zeitraum von April bis August dieses Jahres wurden nach einer Analyse des Marktplatz-Experten Mark Steier 1178 Händleraccounts auf Otto.de gelöscht. (…) Und dann ist da noch die Sache mit der Technik. „Die technische Kompetenz entspricht in etwa dem Gründungsjahr der Firma“, spottet der Topmanager eines technischen Dienstleisters über den Handelskonzern, der in diesem Jahr sein 75-jähriges Jubiläum gefeiert hat. Die Kommunikation sei „absolut arrogant“ und entspreche in keiner Form einer Partnerschaft.“
Ich habe Otto nicht völlig den Rücken gekehrt. Vor zwei Jahren etwa hatte ich eine größere Investition (nämlich den Kauf eines Trockners) dort abgewickelt – übrigens völlig reibungslos. Einen überwiegenden Teil meiner Online-Käufe mache ich inzwischen aber über Amazon.
Das Convenience-Angebot von Amazon ist faktisch allzu verführerisch: Ein Produktangebot, das keine Wünsche offen lässt. Hilfreiche Bewertungen. Kurze Lieferzeiten (u.a. Same Day Delivery). Ein verlässliches Tracking der Lieferung. Wunschlisten, die sich einfach mit Freunden teilen lassen. Und eine Rückgabe-Policy, die völlig reibungslos und ohne kafkaeske Rücknahmeprozesse funktioniert.
Nun ist Bequemlichkeit natürlich kein sonderlich überzeugendes Argument. Und wenn ich heute sehr viel mehr bei Amazon bestelle, als ich mir das noch vor 5 Jahren hätte vorstellen können, dann ist der Grund nicht einfach, dass ich bequemer geworden wäre. Oder dass der Familienalltag so eng geworden ist, dass ich einfach den Weg des geringsten Widerstandes ginge.
So einfach ist es nicht. Ich lebe mit meiner Familie (mit zwei 6-Jährigen) etwa auch ohne Auto, und wir halten das hervorragend durch. Und vielfach wäre ein Auto deutlich bequemer und zeiteffizienter. Es geht also nicht allein um Bequemlichkeit.
Der Unterschied zwischen dem Verzicht auf das Auto und den Besorgungen auf Amazon besteht eher in Folgendem: Aus ethischen Gründen halte ich es für wichtig, meinen ökologischen Footprint zu minimieren und (innerhalb meiner Community und für meine Kinder) einen Lebensstil vorzuleben, der diesem ethischen Anspruch entspricht. Man kann sich darüber streiten, ob dieser Verzicht den Klimawandel aufhält oder nicht (nüchtern betrachtet: eher nicht), aber der Verzicht auf das Auto ist ein unwiderlegbarer Beitrag, es reduziert meinen ökologischen Fussabdruck.
Eine solche unstrittige Argumentationskette wird hinsichtlich der Nutzung von Amazon schon deutlich schwieriger. Um welche Werte geht es bei der Entscheidung Amazon vs. Otto? Und lässt sich eine robuste Argumentationslinie herstellen zwischen einem solchen Wert und der Kaufentscheidung bei diesem oder jenem eCommerce-Anbieter?
Zunächst einmal können wir annehmen, dass ich bei beiden Plattformen das gleiche Produkt kaufen würde (z.B. eine Druckerpatrone oder ein Buch). Es hat also nichts mit der Frage nach ethisch korrekt hergestellten Produkten zu tun.
Was aber ist mit den Arbeitsbedingungen bei deutschen Mitarbeitern von Amazon? In meiner Wahrnehmung ist Amazon zwar kein Top-Arbeitgeber, aber ich stufe das Unternehmen auch nicht als Ausbeuter-Betrieb ein.
Und was ist mit Profiten, die in großen Teilen in die USA abfließen und nicht in Deutschland verbleiben? Das ist natürlich ein valides Argument; es ist in der arbeitsteiligen Welt von heute aber auch weltfremd anzunehmen, dass sich ein „Buy German“ durchhalten ließe.
Was wiederum freilich äußerst problematisch ist: Amazon entwickelt sich zu einem Quasi-Monopol (60% Marktanteil!). Nachteile hieraus zu Ungunsten von Kunden oder Marktplatzteilnehmern lassen sich aktuell de facto nicht erkennen; das Risiko besteht aber durchaus. Ich tue mich aber auch schwer, meine Kaufentscheidungen nach wirtschaftspolitischen oder kartellrechtlichen Abwägungen auszurichten.
Ja, wir haben als Konsumenten eine Verantwortung. Die Antworten auf ethische Fragestellungen rund um Kaufentscheidungen sind aber nicht immer eindeutig, wie die obigen Überlegungen erkennen lassen. Und bisweilen nicht überzeugend genug, um Routinen aufzubrechen. Der Anspruch muss nichtsdestotrotz bleiben, Werte-geleitet zu agieren und dabei konsequent zu bleiben. Und abschließend noch der Hinweis, dass ich mich anfangs diesen Jahres bei Facebook abgemeldet habe, weil ich die Firmenphilosophie von Meta (vgl. Frances Haugen) für sehr problematisch halte. Diese Entscheidung ist mir nicht schwergefallen, das war eindeutig.