Armin Nassehi, Professor an der LMU in München, gehört unzweifelhaft zu den führenden Intellektuellen der BRD (neben etwa Prof. Herfried Münkler). Stets gut gelaunt und streitbar tritt er auf und führt einen unverkennbar akademischen Diskurs, in den sich Zuhörer/Zuschauer außerhalb der akademischen Welt etwas Hineinhören müssen, wenn man (wie ich) mit den dort geläufigen Begrifflichkeiten nicht unmittelbar vertraut ist (ein paar Beispiele aus dem Buch: „Antezedenzbedingungen“, „epistemologisch“, „Ontologisierung des Erkenntnisprozesses“ oder „emergente Herstellung von Mustern“).
Das Buch ist aber gut lesbar, der Buchautor Nassehi adressiert nicht nur ein akademisches Publikum, sondern auch eine Leserschaft jenseits der akademischen Zirkel: Der Autor „übersetzt“ vielfach aus dem akademischen Sprachduktus in Formulierungen, die ohne allzu viele Fachtermini auskommen (häufig eingeleitet durch Sätze wie „Weniger philosophisch formuliert“) und illustriert seine Aussagen an konkreten Beispielen. Kurz: Man sollte sich beim ersten Durchblättern im Buchladen nicht von Passagen abschrecken lassen, in denen Nassehi für die akademische Zielgruppe schreibt (und daran hat er sichtlich Spaß, wie jeder bestätigen kann, der ihn auf Veranstaltungen erlebt).
Nun aber zum Inhalt des Buches selbst. Ganz klar bereichert Nassehi die Debatte um Digitalisierung, das ist Buch ist also unbedingt lesenswert. Er ist mit den Publikationen zur Digitalisierung vertraut (liefert zu Beginn des Buches auch einen kurzen Abriss dazu), und liefert Content, der nicht einfach bestehende Thesen verstärkt, sondern einen neuen, frischen Blick auf das Phänomen der Digitalisierung wirft (also komplementär ist zu bestehenden Publikationen). Der Autor tritt hierbei weder als Kritiker, warnende Stimme oder Befürworter auf – vielmehr seziert er (als neutraler Beobachter) die Erfolgsbedingungen für die Digitalisierung, setzt Methoden der Soziologie mit Big Data Analysen ins Verhältnis, zeichnet Entwicklungsstränge historisch nach. Das Buch gliedert sich in 9 Kapitel, wovon ich nachfolgend Kapitel 1 („Das Bezugsproblem der Digitalisierung“) sowie Kapitel 8 („Gefährdete Privatheit“) beispielhaft vorstellen möchte – ein bisschen vereinfacht natürlich (es ist eine Buchvorstellung, keine Kopie davon).
Kapitel 1: Das Bezugsproblem der Digitalisierung
Nassehi legt zunächst eine Definition von Gesellschaft vor, Gesellschaft als ein Gebilde von sozialen Interaktionen, denen (mehr oder weniger sichtbare) Muster und Strukturen zugrunde liegen. Die Muster und Strukturen ergeben sich aus Regelmäßigkeiten, etwa implizite Regeln, die bei der Partnerwahl für eine Lebensgemeinschaft verfolgt werden, Mobilitätsverhalten, Wahlverhalten, Kommunikationsmuster und derlei mehr. Solche Strukturen waren vor der klassischen Moderne noch einfach erkennbar, die Struktur der Klassengesellschaft war transparent, die Verhaltensregeln in diesen Gesellschaften ebenfalls. Das Projekt der Moderne nun hat diese Form der Gesellschaft in eine neue Gesellschaft überführt, und zwar „mit ihren Programmen der Subjektivität und der Individuierung, (…) durch ihre abstrakten Gleichheitsversprechen bei konkreten Ungleichheitsfolgen (…)“.
Das Interessante hieran ist nun: Mag die „Gesellschaftlichkeit der Gesellschaft“ im Zuge der Moderne auf den ersten Blick verloren gegangen sein, also die Strukturhaftigkeit, die Regelmäßigkeiten, so gilt aber: Nach wie vor zeichnet sich unsere moderne Gesellschaft durch eben solche Muster und Strukturen aus, wir folgen (wenn auch nicht bewusst) Regeln, die eben dies hervorbringen. Wir mögen unser Handeln als hoch-individuell (und einzigartig) wahrnehmen, aber tatsächlich liegen dem Muster und Regelhaftigkeiten zugrunde, die eben Gesellschaftlichkeit konstituieren.
Mit der Moderne hat sich aber eines gewandelt: Diese Muster sind nicht mehr (einfach) erkennbar. Erst mit den Mitteln von „Big Data“ – um das salopp zu formulieren – werden diese Strukturen erst erkennbar. Nassehi formuliert: „Moderne Gesellschaften sind nur digital zu verstehen.“ (S. 62) Oder anders formuliert: „Die empirische Sozialforschung deckt Muster auf, die latent sein können, die ohne solche Forschung unsichtbar bleiben.“ (S. 55). Konsequenterweise fällt in das 19te Jahrhundert die Bildung von privaten Statistikvereinen, in das Jahr 1872 fällt die Gründung des „Statistischen Amts des Deutschen Reiches“ (die erhobenen Daten wurden keineswegs veröffentlicht, galten als Staatsgeheimnis). Diese Datenerhebung war die Grundlage für die empirische Sozialforschung und die Sichtbarmachung der zugrunde liegenden Muster. Auf dieser Musterhaftigkeit von Verhalten („erwartbares Verhalten“) basiert wohlgemerkt auch der Einsatz von Big Data durch die Retail-/Konsumgüterindustrie.
Das ist natürlich eine Kränkung. Nassehi formuliert dies wie folgt: „Das Unbehagen an der digitalen Kultur speist sich aus dem Sichtbarwerden dieser modernen Erfahrung. Es wird nun erst recht offensichtlich, dass die digitalen Möglichkeiten der flächendeckenden Beobachtung, die Rekombination von Daten und die Möglichkeiten des Kalkulierens die Akteure darauf stoßen, was sie zuvor latent halten konnten: wie regelmäßig und berechenbar ihr Verhalten ist.“ (S. 42).
Nun fällt die Antwort auf die Frage einfach, die Nassehi zu Beginn seines Buches gestellt hat. Nämlich: „Für welches Problem ist die Digitalisierung eine Lösung?“. Die Antwort: Moderne, komplexe Gesellschaften sind nicht mehr mit analogen Mitteln (Beobachtung, etc.) zu verstehen; die Strukturen, die Ordnung der modernen, komplexen Gesellschaft lässt sich nur erkennen, wenn man Digitalisierung einsetzt. Und da die moderne Gesellschaft sich bereits im 19ten Jahrhundert herausbildete, fallen in diese Zeit auch die Bildung statistischer Gesellschaften und statistischer Ämter, bereits zu diesem Zeitpunkt wurde die Gesellschaft mittels Daten vermessen und Ordnung/Strukturen offengelegt. Wir erleben folglich heute eine Digitalisierung 2.0, die eine Entwicklung fortsetzt, deren Beginn bereits im 19ten Jahrhundert liegt.
Kapitel 8: Gefährdete Privatheit
Nicht nur legen Digitalisierung und die damit einhergehenden Möglichkeiten der empirischen Sozialfolgen die Regelhaftigkeit unseres Verhaltens als „Individuen“ frei, gleichzeitig sehen wir unsere Privatheit bedroht. Zu dieser Frage liefert der Buchautor Nassehi eine interessante historische Einordnung der gegenwärtigen Diskussion um Privatheit.
Zunächst schafft er ein gemeinsames Grundverständnis, nämlich das Narrativ, das der Diskussion um Privatheit zugrunde liegt: „dass es eine klare Grenze gibt zwischen dem privaten Raum der Selbstbestimmung und idiosynkratischen Lebensformen und dem öffentlichen Raum der Erreichbarkeit für andere.“ Der Autor fügt illustrierend noch hinzu, dass die Grenze zwischen diesen Räumen “architektonisch durch die Haus-/Wohnungstür“ markiert würde.
Nun führt Nassehi in eine hochspannende „gedankliche Figur“ (so würde es vermutlich Nassehi formulieren) ein: Die Privatheit, die wir als Möglichkeit in der modernen Gesellschaft annehmen, ist nur deshalb möglich gewesen, weil – salopp formuliert – das Individuum dergestalt konditioniert war, dass das Individuum auch außerhalb des öffentlichen (kontrollierten) Raums eine “vernünftige Privatheit“ pflegte. In den Worten des Buchautors: “Der Verzicht auf unmittelbare Kontrolle des privaten Lebens war für den Staat und für die Öffentlichkeit nur möglich, weil man es mit einem Personal zu tun hatte, das durch entsprechende Asymmetrien zwischen paternalistischen Normalisierungsagenten – Ärzten, Lehrern, Militärs, Sozial-, Stadt- und Hygieneplanern, Polizei und Gerichten – und ihren Klienten so etwas wie einen selbstkontrollierten Menschen hervorgebracht hat (…)“.
Und einen Gedanken weiter: Es war erst „Big Data“, das einen ausreichendes Verständnis von den Regelmäßigkeiten des Verhaltens schafft und damit die Steuerung des „Volkes“ ermöglichte, eine Konditionierung und – schließlich – die Schaffung von Privatheit. “Was zum Normallebenslauf der klassischen Moderne gehört – beschützte Kindheit, lange Ausbildungsphasen, Arbeitsmotivation um ihrer selbst willen, Wille zur Karriere und zur Familiengründung, Loyalität demokratischen Entscheidungen gegenüber, ein Gemeinschaftsgefühl einer Solidarität unter Fremden – all das ist nicht einfach da, sondern muss von jenen moralisch und mit professioneller Güte und Vernunft, aber auch Härte und Strenge gefordert werden, die wissen, wie der Hase läuft – von jenen nämlich, die Zugang zu Big Data haben.“.
Armin Nassehi belässt es hier nicht einfach bei dieser historischen Einordnung. Aber er fragt: “Welche Privatheit wollen wir nun retten? Es dürfte vergeblich sein, so etwas wie eine unbeobachtbare, authentische, autonome Privatheit retten zu wollen – diese hat es nie gegeben.“ (S. 315). Außerdem formuliert er: “Nur los wird man die Netzwerk- und Matrixstruktur des Internets und seiner Big Data-Möglichkeiten nicht mehr, wenn all die Sensoren und Messpunkte, mit denen die Gesellschaft sich ausstattet und mit denen sich auch Akteure selbst ausstatten uns willig bedienen Daten über Daten sammeln.“ (S. 316). . Aber natürlich konstatiert er: “Und in der Tat besteht ein erheblicher Regelungsbedarf für unterschiedliche Fragen.“ (S. 316).
Es gibt also noch jede Menge Hausaufgaben.
Es gibt im Übrigen ein sehr gutes Interview mit Armin Nassehi im Schweizer Rundfunk aus der Reihe Sternstunde Philosophie, wo der Buchautor Nassehi einige wesentliche Gedankengänge aus dem Buch vorstellt und damit einen einfacheren Zugang zu der Publikation schafft:
“Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft“ von Armin Nassehi (C.H. Beck Verlag, 330 Seiten, gebundene Ausgabe, 26 Euro)