Dieser Blog ist meinem Vater gewidmet. Warum? – Ganz einfach. Er hat all die Fragen gestellt, die ich nun in diesem Blog beantworte. Es geht um Digitalkompetenz: Was ist das, und wer braucht wieviel davon? Mein Vater ist selbst Mathematiker, hat seinerzeit an der Schule den ersten Programmierkurs an der Schule eingeführt. Für seine Digitalkompetenz bekommt er also schon mal die Schulnote 1. Außerdem liest er regelmäßig meinen Blog, also 1 mit Stern.

Nun hat mir mein Vater als Reaktion auf einen meiner letzten Blogs zum Thema „Rückstand Deutschlands bei der Digitalisierung“ folgende Fragen gestellt:

  • Muss ein Mensch verstanden haben, wie mächtig Algorithmen sind, und was das überhaupt ist?
  • Muss ein Mensch wenigsten einmal im Leben eine Programmiersprache gelernt haben?
  • Geht es nur um die Kenntnis der Werkzeuge für die normalen Menschen? Oder geht es eher um die Organisation der Wirtschaft, der Produktionsabläufe … ?
  • Was müssen Kinder denn können?

Ich habe ja durchaus schon den ein oder anderen Blog zum Thema Digitalkompetenz geschrieben. Tenor: „Lernt die Grundlagen von Digitalisierung, schaut mal einem Programmierer über die Schulter und kapiert endlich, was man mit der heutigen (Schwachen) KI alles machen kann?!“ – Da muss ich auch mal selbstkritisch sein: Wir Protagonisten der Digitalindustrie halten uns vorschnell für den Nabel der Welt, überall Digitalisierung, überall Zukunft, alles Technologie. Fakt ist: Es macht natürlich keinen Sinn, dass jeder in seiner Freizeit noch mal eben eine Programmiersprache lernt oder einen Lehrgang zum Data Scientist durchläuft. Eine Maximalforderung macht keinen Sinn, wir können nicht alle Deutschen zu einer Reservearmee von Programmierern umschulen. Vielmehr brauchen wir Digitalkompetenz in verschiedenen Abstufungen, und dazu möchte ich hier einen groben Rahmen vorschlagen.

Digitalkompetenz: Die Basics

Zum einen ist unstrittig, dass wir alle (und damit meine ich: alle) eine Anwendungskompetenz (oder: Instrumentelle Kompetenz) benötigen. Dabei geht es um den Umgang mit Digitalen Tools. Es ist heute selbstverständlich, dass wir Auto fahren, Elektrizität nutzen, dass wir Fön oder Toaster nicht in die Badewanne schmeißen. Genauso selbstverständlich muss es sein, sich im Internet zu bewegen, eine strukturierte Internetsuche zu machen, ein Textprogramm zu bedienen und Social Media zu nutzen. Ein Skype-Meeting? – Kein Problem.

Ein Teil dieser Anwendungskompetenz ist übrigens auch die Risikokompetenz. Cyber Hacks, Identitätsklau, Deep Fakes oder Cyber Mobbing nehmen zu. Und mit dem neuen Mobilfunkstandard 5G sowie mit einem wachsenden Internet-of-Things wird sich die Bedrohungslage verschärfen. Jeder, also: absolut jeder muss hierfür ein Risikobewusstsein entwickeln. Jeder sollte wissen, wie man ein sicheres Passwort generiert und was „Spear Fishing“ ist (und wie man sich dagegen schützt). Eine lesenswerte Lektüre: Internet of Crimes von Sicherheitsexperte Gerhard Reischl.

Was ebenfalls für alle ein Muss ist: Zukunftskompetenz. Nicht jeder mag das Interesse und die Geduld haben, sich ein technisches Verständnis von Softwareprogrammierung oder Künstlicher Intelligenz zu erarbeiten. Wir alle brauchen aber ein Verständnis für das Potential und die Grenzen dieser Technologien. Warum? Zum einen sind wir alle Demokraten und beteiligen uns alle an der Gestaltung unserer Zukunft; für diesen Prozess brauchen wir ein gemeinsames Verständnis der Entwicklungspfade, die uns Technologie eröffnen kann.

Zum anderen spielt Erwerbsarbeit in unser aller Leben eine wichtige Rolle; wir müssen verstehen, wie sich die Arbeitswelt verändert. Wir müssen uns darauf einstellen, für viele ergeben sich daraus auch Chancen für neue Karrierepfade. Und gerade für diejenigen, die zu Beginn des Berufslebens stehen, ist die Auseinandersetzung mit Digitalisierung unabdingbar. Welche Berufsprofile werden in der Digitalen Ökonomie gebraucht, welche Kompetenzen sind dafür erforderlich? Auch Eltern müssen das verstehen, um ihren Nachwuchs bei der Berufsfindung zu begleiten.

Zukunftskompetenz heißt etwa, Entwicklungen wie diejenigen des Roboters „Atlas“ der Firma Boston Dynamics gesehen zu haben:

Kommen wir schließlich zur Technologiekompetenz. Hierbei geht es darum, ein einfaches Technologieverständnis zu entwickeln. Die meisten dürften ja auch in etwa erklären können, wie ein Verbrennungsmotor funktioniert oder was Elektrizität ist. Wieviel Technologiekompetenz brauchen wir nun bei der Digitalisierung? Erstmal gilt: Gut ist es darum nicht bestellt. So schreiben die Autoren des Buches „Titelverteidiger. Wie die deutsche Industrie ihre Spitzenposition auch im digitalen Zeitalter sichert“: „90 Prozent der in Deutschland lebenden Menschen haben zum Beispiel keine genaue Vorstellung, was sich hinter einem Algorithmus verbirgt und wozu er im Alltag dient (…)“.

Wie realistisch (und notwendig) ist nun der Anspruch, dem Großteil der Bevölkerung dieses Technologiekompetenz zu vermitteln? Schauen wir einmal auf eine „Bildungs-Initiative“ in Finnland, die Europa-weit Wellen geschlagen hatte: Der kostenlose Onlinekurs Elements of AI sollte die Bevölkerung auf das digitale Zeitalter vorbereiten. Die Initiative setzte sich damals das Ziel, mindestens 1 Prozent der Bevölkerung zu erreichen. Tatsächlich hat „Elements of AI“ sein Ziel übererfüllt, aber es wird doch deutlich, dass die Erwartung hier keineswegs war, große Teile der Bevölkerung damit zu erreichen.

So sehr sich das möglicherweise Wirtschaftspolitiker oder Digitalisierungsfans wünschen: Es bleibt unrealistisch, den größeren Teil der Bevölkerung mit den Grundlagen der Programmierung oder der Künstlichen Intelligenz vertraut zu machen. Das ist auch nicht zwingend notwendig – wohingegen Anwendungskompetenz und Zukunftskompetenz unverzichtbar bleiben. Für Jugendliche und die neue Generation auf dem Arbeitsmarkt gilt im Übrigen etwas anderes, dazu weiter unten mehr.

Digitalkompetenz: Jobprofile an der Schnittstelle zu Digitaltechnologie

Die nächsthöhere Kompetenzstufe gilt für diejenigen in der Arbeitswelt, die an der Schnittstelle zu Digitaltechnologie arbeiten und eine aktive Rolle bei der Steuerung oder Datenverarbeitung haben. Ein solches Aufgabenprofil hat beispielsweise der Controller, der Daten aus diversen Vorsystemen abfragt, mithilfe von analytischer Software auswertet und in Berichtsform aufbereitet. Oder ein Facharbeiter in einer Smart Factory, der einen maschinellen Produktionsprozess steuert. Hier ist also vor allem eine vertiefte Anwendungskompetenz erforderlich. Ein technologisches Grundverständnis mag für manche Aufgaben erforderlich sein, ist aber nicht immer zwingend erforderlich.

Worauf etwa Professor Dueck in seinen Vorträgen immer wieder hinweist: Wenn wir die einfachen Aufgaben sukzessive automatisieren (etwa mithilfe von Robotic Process Automation (RPA)), dann bleiben die herausfordernden Aufgaben übrig. Kurz: Jene Aufgaben, die Lösungskompetenzen erfordern, kritisches Denken und die Fähigkeit, sich über Informationssuche und Koordination einer Lösung anzunähern. Kein Wunder also, dass die Arbeitswelt in der Digitalen Ökonomie folgende Kompetenzen besonders einfordert. Nämlich die sogenannten „4 K“: Kommunikation, Kreativität, Kritisches Denken und Kollaboration.

Digitalisierung erfordert folglich nicht einfach nur zusätzlich „technische Kompetenzen“. Sondern Digitalisierung verschiebt ganz grundsätzlich das Anforderungsprofil.

Digitalkompetenz: Führungskräfte

Kaum überraschend: Die Anforderungen an die Digitalkompetenz von Führungskräften ist besonders hoch. Denn diese müssen zum einen Unternehmen zukunftsfähig ausrichten. Zum anderen müssen diese Mitarbeiter und deren Fähigkeiten weiterentwickeln im Hinblick auf die Digitale Ökonomie. Hinzu kommt das Change Management im Zuge der Digitalen Transformation von Unternehmen.

Ich spreche hier übrigens keineswegs nur von Führungskräften der IT-Abteilungen. Sondern von Führungskräften generell – das gilt für den Bereich Vertrieb ebenso wie für den Bereich Controlling & Finanzen. Hierzu hatte ich im letzten Jahr bereits einmal einen Blogartikel geschrieben, nämlich Digitalkompetenz im Industriezeitalter 4.0: Softwareprojekte steuern, Software erfolgreich einführen

Führungskräfte müssen – das betrifft den strategischen Aufgabenbereich – vor allem ein Gespür für Technologietrends entwickeln. Das ist entscheidend, um Unternehmen zukunftsfähig ausrichten zu können. Digitalisierung verändert die Geschäftsmodelle aller Branchen. Es geht also darum, das Geschäftsmodell auf Chancen und Risiken durch Digitalisierung zu überprüfen, weiter zu entwickeln und umzusetzen. Positiv formuliert: Es geht um Zukunftslust und die Frage, wie die eigene Branche in 10 oder 20 Jahren aussehen könnte, wenn man die Entwicklung bei KI und Automatisierung einmal in die Zukunft extrapoliert.

Auf einer operativen Ebene geht es darum, die Digitale Transformation zu steuern. Geht es Beispielsweise um die Digitalisierung von Geschäftsprozesse im Unternehmen, dann erfordert dies die Fähigkeit, Software auszuwählen, zu entwickeln, einzuführen. Sofern eigene Digitale Produkte entwickelt werden (inhouse oder mit Entwicklungspartnern), dann ist die Vertrautheit mit Grundbegrifflichkeiten unerlässlich: Responsive Design, Scrum, Agiles Projektmanagement, ProjectBacklog, Sprint oder Hybrid Cloud. Virtual Reality, Augmented Reality, Chatbot, IoT, BlockChain, A/B Testing, UI, UX, Front End, Back End und Objektorientierte Programmierung . Cascading Style Sheets (CSS), HTML5, XML oder Continuous Integration. Eine Übersicht zu den wichtigsten Programmiersprachen, Frameworks gibt’s hier.

Und Kinder … ?

Die Kinder von heute werden eine Arbeitswelt kennen lernen, die noch stärker von digitaler Technologie durchdrungen sein wird, als wir uns das heute vorstellen können. Digitalkompetenzen wird für eine weit größere Zahl von Berufsbildern relevant sein, als dies heute der Fall ist. Es ist darum richtig, den Keim für die Ausbildung dieser Digitalkompetenzen so früh wie möglich zu legen.

Das heißt keineswegs, dass nun jeder Fünfjährige sofort ein Smartphone und Tablet benötigt. Das Wischen auf einem Touchpad kann kaum als Digitalkompetenz gelten – und der Gehirnforscher Manfred Spitzer warnt Eltern in seinem Buch „Cyberkrank!“ vor den Folgen eines falschen Umfangs mit Digitalen Angeboten.

Es spricht aber alles dafür, Kinder langsam an Konzepte und Methoden der digitalen Technologie heranzuführen. Das Spiel Scratch wurde vom MIT entwickelt. Es dient dem pädagogischen Zweck, Kinder und Jugendliche mit den Grundkonzepten der Programmierung vertraut zu machen. Und zwar kostenlos. Und grundsätzlich spricht Vieles dafür, Programmieren in Schulen als Schulfach einzuführen.

Ich lasse außerdem auch noch die Expertin für digitale Bildung, Verena Pausder zu Wort kommen. Sie ist bekannt als Gründerin von Fox & Sheep sowie der HABA Digitalwerkstätten. In 2017 hat sie zudem Digitale Bildung für Alle e.V. gegründet. In ihrem jüngst veröffentlichten Buch „Das Neue Land“ empfiehlt Sie für Familien eine „Zukunftsstunde“: Einfach ein Zeitfenster pro Woche festlegen, wo die ganze Familie kleine Projekte mit digitaler Technologie umsetzt: Vom eigenen Familien-Podcast über ein YouTube-Video bis zum Spiel Scratch.

Lieber Papa, ich hoffe dieser Blogartikel beantwortet die wichtigsten Fragen. Mehr Insights gibt’s gerne bei einer Flasche Rotwein … natürlich mit Corona-Abstand! Wir telefonieren heute Abend ja sowieso. Bis später ;- )

Author

Der Autor ist Manager in der Softwareindustrie mit internationaler Expertise: Prokurist bei einem der großen Beratungshäuser - Verantwortung für den Aufbau eines IT Entwicklungszentrums am Offshore-Standort Bangalore - Director M&A bei einem Softwarehaus in Berlin.