Verfügbare Informationen auf Karrierenetzwerken und Stellenportalen nehmen kontinuierlich zu, KI-Algorithmen können diese Daten zunehmend präziser auswerten. Erhalten wechselwillige Berufstätige zukünftig automatisiert Stellenangebote, die hinsichtlich Karrierechancen und Unternehmenskultur optimal ausgewählt sind? Können Unternehmen per Knopfdruck ideale Kandidaten identifizieren hinsichtlich Kompetenzprofil und Wechselwilligkeit? – Ist das die Zukunft, eine Utopie oder eher das Horrorszenario von Datenschutzbeauftragten?

Zudem setzen diverse Unternehmen bereits KI-Algorithmen bei der Personalauswahl ein, ebenso bei der Ermittlung von Persönlichkeitsprofilen. Die Frage liegt nahe: Wie sieht die Zukunft aus in der Personalsuche? Wie sieht die Arbeitsteilung aus zwischen datenbasierten Algorithmen und dem „Fingerspitzengefühl sowie human sense“?

Darüber spreche ich mit André Kunst (Zum LinkedIn-Profil). Er ist Geschäftsführer der KUNST Personalberatung (www.kunst-pb.de) und der ideale Gesprächspartner für die eingangs erwähnten Fragestellungen: André Kunst ist einerseits als Personalberater (Beratung, Direct und Executive Search) vertraut mit den täglichen Anforderungen und den Trends der Branche; andererseits ist er als ausgebildeter Softwareingenieur tief vertraut mit den Möglichkeiten und Grenzen der Digitalisierung: Tagtäglich steht er im Austausch mit IT Entwicklern, denn die Vermittlung von IT Experten zählt zum Kerngeschäft.

Ein Hinweis vorab: Wenn wir im Interview Bewerberinnen / Kandidatinnen / etc. schreiben, dann sind damit alle Bewerber*innen / Kandidat*innen / etc. gemeint. Wir verwenden die gewählte Schreibweise stellvertretend für alle Menschen. Darauf habe ich mich mit Herrn André Kunst geeinigt.

Sebastian: Lieber André, zunächst freue ich mich, dass dieses Interview zustande gekommen ist. Ich kann mich an kein Gespräch mit Dir erinnern, aus dem ich nicht mit einem schönen Aha-Effekt herausgegangen wäre! Also, erste Frage, siehst Du denn eine wachsende Verfügbarkeit von Daten zu Karrierepfaden, Qualifikationen und Persönlichkeitsmerkmalen – etwa in Karrierenetzwerken, in Online Communities und derlei mehr? Kann ein KI-Algorithmus deshalb in absehbarer Zeit den Personalsucher ersetzen?
André: Tatsächlich kommt bereits heute eine spezialisierte Künstliche Intelligenz (NAI) in unterschiedlichen Szenarien zum Einsatz. Zum einen beim ersten Identifizieren, zum anderen beim ersten Screening der Bewerberinnen.

Am weitesten vorgedrungen ist die KI bei einfachen Stellenprofilen, zum Beispiel bei stark technisch ausgeprägten Stellen oder einigen der sogenannten Blue Collar Positionen. Ebenso bei der Vermittlung von freiberuflich Tätigen. Dort wo klar definierte Qualifikationen im Vordergrund stehen.

In vielen Positionen sind Soft Skills, besonders emotionale Intelligenz im Vordergrund. Hier sehe ich zeitnah keine Substitution durch die KI.

Sebastian: Wie hat Digitalisierung denn grundsätzlich Deine Arbeit in der Personalberatung verändert?
André: Wir entwickeln seit einigen Jahren unseren Digitalisierungsgrad systematisch weiter. Bereits 2018 waren wir zu circa 80 Prozent digitalisiert. Ohne diese neue Ausrichtung und Einführung moderner Technologien wäre ein kostendeckendes Recruitment nicht durchzuführen.

Sebastian: Gerade bei Personaldaten handelt es sich um Daten, die besonders kritisch und schützenswert sind. Im Sinne der Datenschutz-Grundverordnung handelt es sich um ‚personenbezogene Daten‘ – und hier gelten strenge Anforderungen. Wie hat die DSGVO Deine Arbeit beeinfluss bzw. verändert?
André: Im Wesentlichen wurde unsere Arbeitsweise hierbei nicht so stark beeinflusst, wie zuvor befürchtet. Denn es gibt mittlerweile DSGVO-konforme Prozeduren und softwaretechnische Unterstützungstools hierfür. Es gibt nach meiner Einschätzung zwei unterschiedliche Felder, in denen die DSGVO unterschiedlich Einfluss nimmt:

Einerseits in der langjährigen Zusammenarbeit mit Bewerberinnen aus dem IT-Management. Hier bedarf es eines (neuen) Commitments der Bewerberinnen, was in der Regel eher unkompliziert ist. Andererseits haben wir Kandidatinnen, die uns noch nicht gut kennen und wo die neuen Verordnungen unsere Arbeit eher behindern.

Sebastian: Die Executive Search ist bekanntlich mit einem hohen Risiko der Fehlbesetzung behaftet. Mit Assessment Center, Persönlichkeitstests wie dem Gießener Inventar der Persönlichkeit oder dem Myers-Briggs-Test versucht man dieses Risiko zu minimieren. Wie schätzt Du neue digitale Instrumente zur Persönlichkeitsbewertung ein, etwa die KI-basierte Videoanalyse, die ja bereits von Unternehmen in Piloten eingesetzt wird?
André: Ich sehe in einem Assessment Verfahren, auch in einem digitalisierten, keine bislang brauchbaren Möglichkeiten, die von Dir angesprochenen Fälle zu vermeiden. Denn wir haben es mit Top Managerinnen zu tun, die solche Assessments mit Bravour bestehen, da sie darauf geschult sind. Erst mit einem Besetzungsverfahren, in das Menschen mit einem hohen Erfahrungshintergrund involviert sind – also Beratende mit praktischer Erfahrung aus dem konkreten Einsatzgebiet z.B. Branche, Ressort und Führungsverantwortung – können wir dafür sorgen, dass passende Bewerberinnen in den Unternehmen eingestellt werden. Wir beziehen hier in multiprofessionellen Teams auch Psychologinnen mit ein.

Im Grunde handelt es sich um ein zweistufiges Verfahren: Die Stellenbesetzung und die Beobachtungsphase in der Probezeit. Hier ist insbesondere eine enge Zusammenarbeit zwischen dem Unternehmen und den Personalberaterinnen erforderlich.

Eine Personalberatung ist natürlich nicht in der Lage eine Probezeit zu ersetzen. Jedoch erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass die Managerinnen auch gut anwachsen werden um ein Vielfaches. Zumal zwischen der Bewerberin und der Personalberaterin ein offener Dialog stattfindet, in dem die Bewerberin auch Nachfragen stellt, die sie seinem zukünftigen Arbeitgeber nicht stellen würde. Hier sehe ich wichtige Stellschrauben auch auf Seiten der Unternehmen, die in den ersten Monaten der Probezeit insbesondere die Aufgabe haben, die neuen Mitarbeiterinnen auf deren Passgenauigkeit hin zu bewerten.

Mein Eindruck ist, dass hier die KI in naher Zukunft noch nicht funktionieren wird. Wer sich die gezeigten Beispiele einer Video-gestützten Analyse anschaut, wird feststellen, dass dies eher Bereiche betrifft, die bereits heute nicht durch Personalberatungen bedient werden. Speziell im Executive Search (hier reden wir von Top Management Positionen) ist mir kein bekanntes Verfahren geläufig.

Sebastian: Welche Disruptionen aus der Digitalisierung erwartest Du für die Personalsuche in Zukunft noch?
André: Wer sein Unternehmen nicht konsequent weiterentwickelt, läuft Gefahr aus dem Markt zu fallen. Hier gibt es bereits heute interessante und gut funktionierende Ansätze, die bestimme engbegrenzte Felder gut unterstützen.

Sebastian: Schauen wir einmal über den deutschen Tellerrand hinaus. Manche Länder sind bei der Digitalisierung der Wirtschaft bereits weiter, teilweise auch aufgrund einfacherer Regulierung. Lassen sich dort Praktiken rund um die Personalsuche beobachten, die möglicherweise ahnen lassen, was zukünftig auch nach Deutschland kommen wird?
André: Ich denke nicht, dass es in erste Linie eine Frage der Regulierung ist. Viel dringender ist die Frage wie in anderen Ländern der Arbeitnehmerschutz und die Arbeitslosenquote aussieht. In Deutschland haben wir in der IT-Branche einen Bewerberinnen-Markt. Konkret bedeutet dies, dass Unternehmen, die nicht zu den begehrten Weltmarktführern oder zu den spannenden Marken gehören, sich mittlerweile bei den Bewerberinnen bewerben, statt umgekehrt. Es gibt unterschiedliche gute Hilfsmittel, die aber leider nicht immer von den Bewerberinnen akzeptiert werden. Eine höhere Akzeptanz solcher Hilfsmittel würde die zeitliche Investition auf beiden Seiten optimieren. Zukünftig werden sie eine deutlich größere Rolle spielen.

Sebastian: Du bist spezialisiert auf die Vermittlung von IT Experten und IT Managern, sowie auf Vertriebsprofis in der IT Industrie. Hier besteht seit Jahren ein Fachkräftemangel, der auch auf absehbare Zeit bestehen bleiben wird. Welche Strategien beobachtest Du in Unternehmen, was ist Deine Empfehlung?
André: Hierbei ist die Kombinatorik komplex, somit gibt es keine einfachen Faustformeln. Ich sehe einen Ansatzpunkt dort, wo ein Großteil der Positionen nur noch über Personalberatungen besetzt werden kann. Unter gewissen Gesichtsunkten existieren hier interessante Einsparungspotenziale. Als Faustformel ab circa 25 Besetzungen pro Jahr. Zusammengefasst: Es ist wichtig, dass die Personalberatung ihre Mandanten gut kennt, damit sie in der Lage ist, zusammen mit den Bewerberinnen deren Passung für das Unternehmen herauszuarbeiten. Das ist sowohl ein Analyseverfahren, als auch ein Verkaufsprozess.

Sebastian: Lieber André, vielen Dank für Deine Zeit und dieses Gespräch! Vor allem aber wünsche ich Dir weiterhin viel Erfolg!

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Der Autor ist Manager in der Softwareindustrie mit internationaler Expertise: Prokurist bei einem der großen Beratungshäuser - Verantwortung für den Aufbau eines IT Entwicklungszentrums am Offshore-Standort Bangalore - Director M&A bei einem Softwarehaus in Berlin.