Vorweg: Ich kann das Buch nicht empfehlen. Trotzdem gebe ich im Folgenden eine Orientierung zum Buchinhalt und erläutere meine Kritikpunkte. Ich stelle auch zwei Bücher vor, die meines Erachtens einen besseren Beitrag leisten zur wichtigen Diskussion darüber, welche ethischen Leitplanken für die Digitalisierung gelten sollten und wie man das umsetzt.

Empfehlenswerte Lektüre zum Thema „Ethik und Digitalisierung“

Ich beginne mit jenen Büchern, die ich für eine bessere Grundlage halte, um eine Ethik der Digitalisierung zu entwickeln.

Die Quantitative Futuristin Amy Webb erläutert in ihrem Buch “The Big Nine. How the Tech Titans & Their Thinking Machines Could Warp Humanity“ nicht nur ethisch bedenkliche Risikoszenarien, sondern skizziert auch Lösungen. Der Fokus liegt hierbei klar auf ethischen Leitplanken für Künstliche Intelligenz, die im Bereich der Digitalisierung die größten Chancen, aber auch größten Risiken mit sich bringt.

Zu den Lösungsvorschlägen zählt etwa eine Global Alliance on Intelligence Augmentation (GAIA), welche die Autorin in der Tradition von Bretton Woods sieht (Eine internationale Vereinbarung über ein globales Finanzsystem, das die Grundlagen für die Entwicklung des globalen Wohlstandes nach dem Zweiten Weltkrieg schuf). Angesichts der Bedeutung von Trainingsdaten für Künstliche Intelligenz fordert Amy Webb ebenfalls die Erstellung von Daten, die um rassistische, geschlechterbezogene und ähnliche Diskriminierungen bereinigt sind. Das jüngst veröffentlichte Sprachmodell GPT3 von OpenAI unterstreicht die Relevanz und Dringlichkeit dieses Vorschlags: Denn trotz aller beeindruckender Fortschritte in der Qualität der Spracherkennung und Sprachgenerierung weist eben dieses Sprachmodell noch unleugbare diskriminierende Tendenzen auf in den generierten Sprachtexten.

Auch das Buch Künstliche Intelligenz und der Sinn des Lebens des Publizisten und Philosophen Richard David Precht ist empfehlenswert als ethische Orientierung. Precht belässt es nicht bei generischen Forderungen, sondern setzt sich beispielsweise ganz konkret am Beispiel von „Autonomes Fahren“ mit den komplexen Herausforderungen auseinander, die „ethisches Programmieren“ mit sich bringen.

Digitale Ethik, Sarah Spiekermann: Intro

Nun zum Buch „Digitale Ethik“ selbst. Ich habe nach ca. 150 Seiten Lektüre enttäuscht aufgegeben. Dass ich überhaupt so lange durchgehalten habe, hängt mit den überwiegend positiven Bewertungen dieses Buches zusammen, die ich im Nachhinein nicht verstehe. Etwa der Autor Richard David Precht erwähnt das Buch positiv in seiner bereits erwähnten Publikation Künstliche Intelligenz und der Sinn des Lebens. Und auf Amazon liegt die Bewertung bei 4,5 von 5 Punkten (Anm.: Bei Amazon kaufe ich zwar keine Bücher, dort findet man aber hilfreiche Rezensionen). Vereinzelte Leser/Innen äußern sich auf Amazon aber durchaus enttäuscht: “Ich hoffe, dass Frau Prof. Spiekermann ihren Wirtschaftsinformatik-Studierenden mehr beibringt als dieses esoterische, rückwärtsgerichtete Geschwurbel, das wohlfeil Punkte aufzählt, die in Romanen wie „The Circle“ (Eggers) oder auch dem unterhaltsamen Qualityland (Kling) längst viel pointierter transportiert wurden.“

„Digitale Ethik. Ein Wertesystem für das 21. Jahrhundert“, Sarah Spiekermann, Verlag DROEMER, Erstausgabe April 2019, 300 Seiten, 20 Euro

Digitale Ethik, Sarah Spiekermann: Buchinhalt und Kritik

Die Professorin Spiekermann stellt ihren Studenten für die Entwicklung Digitaler Geschäftsmodelle drei Leitfragen, um zu Werte-orientierten Unternehmen zu gelangen (vgl. Seite 33):

  • Wie wirkt sich die Technik langfristig auf den Charakter der betroffenen Stakeholder (Kunden, Angestellte, etc.) aus?
  • Welche menschlichen, sozialen, ökonomischen oder sonstigen Werte sind im Positiven wie im Negativen durch den neuen Dienst tangiert? Überwiegen Vor- oder Nachteile?
  • Welche persönlichen Maximen oder Wertprioritäten seht ihr durch den Service betroffen, die aus eurer Sicht für so wichtig haltet, dass ihr sie gerne in unserer Gesellschaft bewahren möchtet?

Diese Leitfragen sind zweifelsohne richtig. Für eine weitergehende Operationalisierung jedoch liefert Spiekermann nur wenig Orientierung. Bereits die vorgelegte Definition von „Werten“ entzieht sich einer praktischen Operationalisierbarkeit, sie fundieren bei Spiekermann sehr wesentlich auf Subjektivität: „(…) beim Erkennen von Werten handelt es sich nicht um einen streng logischen Vorgang, sondern eher um ein gefühltes Streben nach einer bestimmten Sache.“ (S. 40) Beispielhaft führt die Autorin an: “Wir betreten beispielsweise eine Wohnung, empfinden sie als schön und geschmackvoll, als ordentlich und modern oder als chaotisch und dreckig. Sofort stehen Werte im Raum: Schönheit, Harmonie, Modernität oder negative Werte wie Chaos, Unreinheit, Kitsch.“ (S. 37). Eine solche Wertethik mag ihre Berechtigung haben, Spiekermann thematisiert allerdings nicht einmal die Problematik für eine praktische Umsetzung, die mit dieser Subjektivität zusammenhängt (Was ist „Schönheit“, „Harmonie“?), geschweige denn liefert praktikable Antworten zum Umgang damit. Etwas weiter hinten im Buch (S. 174) stellt die Autorin immerhin eine Wertehierarchie vor, die ähnlich strukturiert ist wie die Maslow’sche Bedürfnispyramide.

Die Autorin verwendet im Übrigen auch erst einmal die ersten 170 Seiten (von 300), um allbekannte Kritikpunkte zu heutigen Digitalen Produkten und Services auszubreiten. Die Überschriften der Kapitel lassen schnell erkennen, worauf die Autorin abzielt: „Der Entzug von Lebens- und Denkenergie“, „Die Entwicklung seichter Persönlichkeitsstrukturen“, „Die Illusion menschlicher Gemeinschaft“. Darunter nichts Neues, ausnahmslos alle Themen sind in den vergangenen Jahren diskutiert wurden, hierzu gibt es bereits umfangreiche Literatur (z.B. “Cyberkrank” (Erscheinungsjahr 2015) des Gehirnforschers Manfred Spitzer).

Spiekermann schlägt dabei vielfach alarmistische Töne an. Beispiel E-Government: „Schon hat man begonnen, unter dem Stichwort E-Government viele Prozesse der öffentlichen Hand zu digitalisieren. Nur kann ein falsch behandelter oder falsch klassifizierter Bürger nicht auf Durchzug schalten und wird sein Vertrauen in den Staat verlieren. (…) Unsere demokratischen Gesellschaften würden dann in einem gewaltigen rückschrittlichen Chaos landen.“ (S. 97f) Diese zutiefst pessimistische Haltung mutet befremdlich an, man schaue sich als Kontrapunkt zum Thema E-Government einmal folgende Reportage an: „E-Government in Estland: Unterwegs im digitalen Musterland (19:00 min)“.

Noch befremdlicher sind dann die Empfehlung und Konsequenz der Autorin im Anwendungsbereich E-Government: “Grundsätzlich sollte es für alle digitalen Prozesse, in denen Menschen betroffen sind, analoge Backup-Prozesse geben. Alles andere wäre verantwortungslos und unethisch.“ (S. 99) Wer einmal in Deutschland den unsäglichen Papierkrieg zur Beantragung von Kindergeld und ähnlichen behördlichen Vorgängen durchgemacht hat, kann sich über einen solchen Vorschlag nur wundern. Was soll das heißen? Dass wir die für alle Behördengänge (denn ALLE Behördengänge betreffen in der Regel die Menschen) noch die alten Formulare als „Back-Up“ irgendwo vorrätig halten sollten? Ernsthaft? Dieser Vorschlag zielt zudem am eigentlichen ethischen Kernthema für E-Government völlig vorbei: Denn es muss doch vorrangig um Nachvollziehbarkeit gehen, um Begründbarkeit von Entscheidungen in digitalisierten Prozessen.

Ein abschließendes Beispiel noch zu jenen thematischen Schwerpunkten und Ausführungen, die mir sehr weit entfernt von relevanten ethischen Fragestellungen in der Praxis erschienen. Es geht um den „Wert des Trostes“. Dazu stellt die Autorin zunächst die unterschiedliche Reaktion zweier Sprachassistenten verschiedener Sprach-/Kulturräume auf eine identische Spracheingabe eines Menschen vor. Nämlich: „Ich bin traurig“. – Die englischsprachige Variante antwortet: „Ich wünschte, ich hätte Arme, um dich zu knuddeln.“. Die russischsprachige Variante antwortet: „Keiner hat gesagt, dass das Leben eine Spaßveranstaltung ist.“.

Es ist zunächst ein sehr amüsantes Beispiel, das die Unterschiede zwischen Kulturen und Weltsichten illustriert. Beide Antworten halte ich für unnatürlich, denn die naheliegende natürliche Reaktion ist doch die Gegenfrage: „Warum bist Du traurig?“. Erst hierauf ließe sich eine adäquate Antwort finden. Es wäre zudem zu differenzieren, ob die Antwort im Alltag oder im therapeutischen Kontext gegeben wird. Tatsächlich gibt es ja bereits Apps wie Woebot (Gründung von Stanford-University-Wissenschaftlern), die gezielt als Gesprächspartner für Betroffene von Depression und Angstzuständen eingesetzt wird. Da besonders Menschen mit Depression Schwierigkeiten haben, mit anderen zu sprechen, ist die Hürde zum Austausch mit Chatbots geringer und verschaffen Chatbots sogar einen Vorteil.

Derlei differenzierte Herangehensweise an die Fragestellung lässt Spiekermann vermissen. Stattdessen Überlegungen, die generischer nicht sein könnten und Systemdesigner oder Programmierer zur Verzweiflung treiben dürften: „Wie können in einem Sprachassistenten die Voraussetzungen für diesen Wert [des Trostes] geschaffen und dabei auch noch die kulturell adäquaten Normen für Troststiftung in den weltweiten Absatzmärkten garantiert werden? Um diese Fragen zu beantworten, muss man sich mit dem Wert des Trostes genauer beschäftigen. Man muss ihn konzeptionell herunterbrechen und genauer verstehen.“ (S. 178).

Fazit

Wer sich mit Digitalisierung, den Chancen und Risiken auseinander setzen möchte, dem empfehle ich, einen Blick auf folgende Liste von Lesempfehlungen zu werfen: Bücher zu Digitalisierung: Meine persönlichen Empfehlungen

Author

Der Autor ist Manager in der Softwareindustrie mit internationaler Expertise: Prokurist bei einem der großen Beratungshäuser - Verantwortung für den Aufbau eines IT Entwicklungszentrums am Offshore-Standort Bangalore - Director M&A bei einem Softwarehaus in Berlin.