Die Digitalisierung unserer Lebens- und Arbeitswelt ist ein Prozess von revolutionärem Ausmaß. Und selbstverständlich muss dieser Prozess politisch gestaltet werden, wir brauchen hierzu einen öffentlichen Diskurs über einen mehrheitsfähigen Entwicklungspfad. Dabei gibt es visionäre ebenso wie kritische Stimmen. Kritik gehört dazu. Nicht jede Entwicklung ist zu begrüßen, wir müssen die Risiken im Blick behalten. Aber andererseits ist auch nicht jede Kritik berechtigt.

Der Anlass für diesen Blog ist ein Vortrag von Prof. Dr. Lesch, den ich mir (im Familienkreis) auf YouTube angesehen habe. Ich kenne Prof. Lesch aus diversen Talkshows, letztlich vor allem als unermüdlicher Aufklärer zum Thema Klimakrise. Sein Vortrag zu Digitalisierung hat mich – um es milde auszudrücken – etwas überrascht. Schon der Titel des Vortrags – „Diktatur der Digitalisierung“ – kommt bereits mit einer äußerst starken Wertung daher. Der Vortrag selbst verfällt immer wieder ins Polemische. Manche Kritikpunkte sind zweifelsohne berechtigt. Andere sind unreflektiert und zielen nur darauf ab, Digitalisierung ins Lächerliche zu ziehen. Zum Vortrag selbst geht’s übrigens HIER

Da wird etwa ein Hausbesitzer nachgeäfft, der nach einem Zahnarztbesuch seine Haustür nicht mehr öffnen kann, die sonst auf seine Stimme reagiert; denn nach der Zahnbehandlung kann der Hausbesitzer nur noch unverständlich nuscheln. Es handelt sich dabei um eine Anekdote, die berechtigterweise die Frage nach sich zieht, welche Back-Up Systeme es für solche Szenarien gibt. Keineswegs ist das ein Vorfall, der digitale Produkte an sich diskreditiert. Möglicherweise verschwindet dieses Angebot wieder vom Markt – das gehört zum Auf-und-Ab der Innovationsgeschichte. Das ist völlig normal. Über die vielen Tausend Hausbesitzer, die einen Haustürschlüssel verloren oder verlegt haben, hat Prof. Dr. Lesch bezeichnenderweise nicht gesprochen.

Das Problematische an solchen Stellungnahmen ist die Verstärkung einer Technologieskepsis und Technologieablehnung, die es Deutschland schwermacht und schwer machen wird, Anschluss zu finden an die führenden (Wirtschafts)Nationen bei Digitalisierung. Dazu zählen insbesondere die USA und China. Was wir statt solch polemischer Kritik an Digitalisierung brauchen, ist etwas Vergleichbares wie die Initiative in Finnland, einen Großteil der Bevölkerung mit Basis-Technologien wie Data Science und Künstlicher Intelligenz vertraut zu machen. Vergleiche dazu den Blogpost: Wie Finnland die Bevölkerung auf das digitale Zeitalter vorbereitet: Kostenfreier Onlinekurs zu Maschinenlernen, Künstlicher Intelligenz

Ich habe also dieses Video zum Anlass genommen, eine Bestandsaufnahme (berechtigter) Kritikpunkte vorzunehmen. Hierbei beschränke ich mich auf einen Überblick zu wesentlichen Punkten, jeder andere Anspruch würde den Rahmen eines Blogbeitrags sprengen. Im Übrigen habe ich bereits in einem Video-Beitrag vor einigen Monaten (wesentliche) Chancen und Risiken der Digitalisierung gegenüber gestellt (hier: Digitalisierung: Chancen, Risiken und Handlungsbedarf).

Gesellschaftliche und persönliche Unsicherheit

Gleich zu Beginn des Vortrags trägt Prof. Dr. Lesch einige Zeilen aus dem Buch „Die radikalisierte Gesellschaft“ des Sozialpsychologen Ernst Dieter Lantermann vor. Die These in Kurzform: Unsicherheit führe zu einer stärkeren Radikalisierung. Und eben die Digitalisierung verursache eine solche Unsicherheit, folglich die radikalisierte Gesellschaft.

Zweifelsohne gilt, dass sich die Veränderungsprozesse der Digitalisierung in einer hohen Geschwindigkeit vollziehen: Die Arbeitswelt ist betroffen, angesichts von Social Media verändern sich persönliche Beziehungen undundund. Die Zivilgesellschaft und Politik müssen hier Antworten entwickeln, die diesen Prozess gestalten und die Angst des Einzelnen vor Veränderungen reduzieren.

Die Kritik von Prof. Dr. Lesch ist einerseits berechtigt, andererseits auch zu kurz gesprungen. Die Unsicherheit innerhalb unserer Gesellschaft rührt nicht ausschließlich (und vermutlich nicht zum wesentlichen Teil) von der Digitalisierung her. Wir haben Phänomene wie Globalisierung, das Erstarken von China, die Machtpolitik Russlands (etwa in der Ukraine), die Europäisierung von Politik (in Verbindung mit Krisen wie Eurokrise, Griechenlandkrise, etc.), den Verlust der Autorität der Kirchen (im Zuge diverser Missbrauchsskandale) und derlei mehr (auch Corona zählt inzwischen dazu). Im Übrigen verweist Lantermann ganz explizit auf die Agenda 2010 als Auslöser für die Unsicherheit. Sie sei ein Bruch in der Sozialgeschichte der Bundesrepublik gewesen, „weg von der Fürsorge hin zur Selbstermächtigung“. Seitdem werde nur der gefördert, der sich für sich selbst einsetze. Deshalb sieht Lantermann auch in der zunehmenden Radikalisierung „mehr ein Zeichen einer schwieriger gewordenen Gesellschaft als das Problem eines Einzelnen“.

Verschärfung des Verteilungskampfes, Arbeitsmarkt

Die Verteilungsfrage ist aus meiner Sicht die drängendste Herausforderung, die sich als Folge der Digitalisierung ergibt. Es gibt Digitalisierungsgewinner und Digitalisierungsverlierer. Die Ungleichheiten verschärfen sich innerhalb von Gesellschaften, aber auch in geographischer Hinsicht. Das Schreckgespenst der “Technologischen Arbeitslosigkeit” wurde besonders pointiert auf den Punkt gebracht mit der vielzitierten Studie “The Future of Employment“, die im September 2013 von den Oxford-Wissenschaftlern Carl-Benedikt Frey und Michael Osborne veröffentlicht wurde. Die Studie untersucht etwa 700 Jobprofile und kommt zu dem Schluss, dass 47 Prozent der untersuchten Jobs in absehbarer Zukunft automatisiert werden könnten. Es folgten Dutzende, wenn nicht Hunderte weiterer Studien dieser Art.

Die zentrale These der Studie: Uns geht die (Erwerbs)Arbeit aus. Gleichzeitig werden die verlorenen Arbeitsplätze nur in Teilen durch neue Tätigkeiten kompensiert. Der Oxford-Wissenschaftler Carl-Benedikt Frey ist wenig optimistisch, dass in gleichem Maße Jobs entstehen wie durch Automatisierung und Robotisierung wegfallen. Die Digitale Revolution sei von anderer Qualität. Und mit dieser Meinung steht er nicht allein. Das Szenario einer breiten technologischen Arbeitslosigkeit muss man ernst nehmen.

Carl-Benedikt Frey weist in seinem Buch The Technology Trap zudem darauf hin, dass zwar die Digitale Revolution das Potential für Wohlstand hat. Aber er mahnt auch, dass die Erfahrung der Ersten Industriellen Revolution in England zeigt, dass es kurzfristig und mittelfristig viele Verlierer gab. Hunderttausende, eher Millionen von Verlierern.

Hierauf ist eine starke politische Antwort gefragt. Diese reicht von einer Neu-Formulierung der Bildungspolitik, möglicherweise die Reduktion von Arbeitszeiten (mit all den Auswirkungen auf die Sozialsysteme) und eine Neu-Strukturierung des Sozialstaates. Das Bedingungsloses Grundeinkommen als (alleinige) Antwort auf die Herausforderung von Technologischer Arbeitslosigkeit reicht sicherlich nicht aus, zumal diese „Lösung“ mit dem Risiko einer Zwei-Klassen-Gesellschaft daherkommt.

Führende Ökonomen in Deutschland sind im Übrigen bislang unbeeindruckt von derlei Schreckensszenarien für den Arbeitsmarkt. Dazu empfehle ich einen aktuellen Beitrag „Podcast Handelsblatt Economic Challenges“; hier diskutieren Professor Bert Rürupund Prof. Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft über das Thema BESCHÄFTIGUNG. Als zentrale Herausforderung in Zukunft sehen beide den demographisch bedingten Rückgang der Erwerbstätigen um ca. 10% bis zum Jahr 2030. Wegrationalisierung der Arbeitsplätze? – Fehlanzeige. Das Produktivitätswachstum seit trotz Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz so „flach wie ein Brett“. Angesichts dieser flachen Kurve stelle sich die Frage, ob die Methode der Messung noch richtig sei. Aber es sei vor allem richtig, dass Produktivitätsgewinne durch höhere Anforderungen an Compliance und ähnliches (kurz: Overhead) insgesamt aufgebraucht würde. Das Fazit beider Ökonomen bleibt: Zur Kompensation der „demographischen Lücke“ müsse das Arbeitszeitvolumen insgesamt erhöht werden – etwa durch eine Verschiebung des Renteneintrittsalters, bessere Vereinbarung von Familie und Beruf und derlei mehr.

Überwachung

Ein weiteres Risiko der Digitalisierung lässt sich unter dem Stichwort „Überwachungskapitalismus“ zusammenfassen. Im äußersten Fall bedeutet es eine Bedrohung unserer liberalen Gesellschaftsordnung. Ein solch dystopischer Überwachungsstaat nimmt bereits in China Gestalt an, wo der Bürger einer immer dichter gewebten Überwachung unterliegt – dies reicht vom Verhalten auf Portalen à la WeChat bis hin zum Verhalten im öffentlichen Raum, wo Kameras mit Gesichtserkennung jeden Bürger im Auge behalten.

Ebenso problematisch ist der gläserne Konsument. Bei Digitalen Plattformbetreibern wie Facebook, Google oder Amazon entstehen digitale Profile von Nutzern, die genutzt werden können, um auf subtile Weise das Kaufverhalten zu beeinflussen. Und schlimmstenfalls noch unser Wahlverhalten und Ähnliches. Prominente Vertreter in dieser Debatte sind etwa die Unternehmerin Yvonne Hofstetter oder Publizist Professor Dr. Harald Welzer (u.a. „Die smarte Diktatur. Der Angriff auf unsere Freiheit“), der im Übrigen selbst vollständig auf ein Smartphone verzichtet.

Hier sei darauf hingewiesen, dass die Europäische Kommission am 21. April diesen Jahres Regelungsvorschläge zur künstlichen Intelligenz (KI) veröffentlichte. Die EU ist damit die erste einflussreiche Regulierungsbehörde, die ein großes Gesetz zur KI erarbeitet. Erstmals werden Ethikrichtlinien für den Bereich Künstliche Intelligenz (KI) in einen rechtlichen Rahmen überführt. In nachfolgendem Blogpost gibt’s mehr Infos dazu: Regulierung von KI durch die EU

Cyberkrank

Wussten Sie, dass junge Menschen im Schnitt 150 Mal pro Tag auf ihr Smartphone schauen?

Der Gehirnforscher Manfred Spitzer ist alarmiert. Er warnt vor Suchtpotential und Aufmerksamkeitsstörungen. In Studien erkennt er auch eine größere Anfälligkeit für Angst, Depression und Schlaflosigkeit. Und er macht klar: Der Mensch bzw. das menschliche Gehirn ist nicht ausgelegt für Multitasking. Hier ein Zitat aus seinem Buch „Cyberkrank“ (Einen Überblick zum Buch gibt es HIER):

„Wer täglich viel Multitasking betreibt, also diesen Arbeitsstil dennoch ständig versucht, der wird nicht besser im Multitasking, sondern trainiert sich langfristig eine Aufmerksamkeitsstörung an.“

Ökologie

Die Klimakrise darf mit guten Gründen als derzeit größte Herausforderung der Menschheit gelten. Es ist darum alarmierend, wenn das Institut für ökologische Wirtschaftsförderung (IÖW) in einer Studie aufzeigt, dass Digitalisierung bisher eher zu mehr als weniger Energieverbrauch führt.

Werfen wir einen kurzen Blick auf die „Energiebilanz“ von Digitalisierung: Einerseits führte Digitalisierung zu einer Explosion des Gebrauchs elektronischer Geräte; weltweit gab es einen massiven Anstieg bei der Anzahl von Rechenzentren, die jeweils für sich gesehen den Stromverbrauch einer mittelgroßen Stadt haben. Allenthalben gibt es Datenverarbeitung, Datenübertragung – all dies treibt den Stromverbrauch nach oben. Das autonom fahrende Fahrzeug beispielsweise verarbeitet enorme Datenmengen und erfordert sehr hohe Prozessorleistung. Andererseits ist Digitaltechnologie eine Effizienztechnologie: Logistikprozesse werden optimiert, der Materialverbrauch in der „Smart Factory“ wird minimiert. Videokonferenzen ersetzen physische Konferenzen (bzw. könnten solche Konferenzen ersetzen).

Vieles deutet darauf hin, dass der Effizienzgewinn durch Digitaltechnologie durch den Rebound-Effekt überkompensiert wird. Der Begriff sei kurz erklärt, und zwar am Beispiel der Mobiltelefone: Die ersten Mobiltelefone aus den 1970er Jahren waren Kiloschwer und keineswegs handlich genug, um sie in die Jackentasche zu stecken. Die Entwicklung ist bekannt, das leichteste Mobiltelefon wiegt heute nicht mal mehr 100 Gramm, und mit der Prozessorleistung eines heute handelsüblichen Smartphones hätte man damals die Apollo-Mission zum Mond steuern können. Der Erfolg bei Miniaturisierung führte zur Explosion der Nutzerzahlen, das Mobiltelefon wurde vom exklusiven Statussymbol einiger Geschäftsleute und Politiker zum Massenprodukt. Diese Explosion bei Verbreiterung des Nutzerkreises (mehr Ressourcenverbrauch) hat den technischen Erfolg bei der Miniaturisierung (weniger Ressourcenverbrauch) bei Weitem überstiegen. Rebound-Effekt.

Eben den gleichen Effekt können wir in vielen anderen Bereichen feststellen: Autos wurden immer verbrauchsärmer, gleichzeitig jedoch hat sich die Fahrleistung erhöht, denn Fahren wurde ja billiger (und bequemer), Haushalte besitzen häufig mehr als nur ein Fahrzeug. Häufig gilt darum: Wo technische Effizienz, Prozessverbesserungen oder neue Produktionsmethoden ein Produkt oder eine Dienstleistung dessen Konsum verbilligt haben, folgte häufig die Vermassung (Flugreisen, elektronische Geräte und derlei mehr).

Um die digitalen Effizienzgewinne der Ökologie nutzbar zu machen, müssten politische Rahmenbedingungen dafür sorgen, dass Effizienzgewinne eben nicht von Rebound-Effekten zunichte gemacht werden. Darum warnt auch der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU): Ungestaltete Digitalisierung ist Brandbeschleuniger beim Ressourcenverbrauch. Es folgt ein klarer Appell an die Politik: Die Politik muss die Digitalisierung in den Dienst nachhaltiger Entwicklung stellen. Denn ohne aktive politische Gestaltung wird der digitale Wandel den Ressourcen- und Energieverbrauch sowie die Schädigung von Umwelt und Klima weiter beschleunigen, so die Wissenschaftler*innen in ihrem neuen Hauptgutachten.

Cybercrime

Sie haben es sicherlich gemerkt. Die Anzahl an Berichterstattungen über erfolgreiche Hacks nimmt zu (Vergleiche dazu auch: Kleine Chronik der Cyber Attacken). Die schlechte Nachricht: Das betrifft uns immer ganz direkt. Denn wenn Yahoo, das Marriott Hotel oder Facebook gehackt werden und ein Leakage stattfindet, dann sind dies UNSERE Daten. Kreditkartendaten, Adressdaten, Kontaktdaten oder auch sehr private Informationen. 2015 wurde die Seitensprungagentur Ashley-Madison gehackt, zahlreiche Ehen gingen darüber zu Bruch.

Der Sicherheitsexperte Gerhard Reischl liefert im Buch „Internet of Crimes“ (vergleiche dazu den Überblick auf meinem Blog: Buchempfehlung: „Internet of Crimes“ – Von Cybergrooming bis Zero Day Exploits) einen sehr kompakten Überblick zu den Cyber Security Risiken unserer Zeit. Wie funktioniert das Dark Net? Wie agieren staatliche Hacker-Gruppen? Was ist ein Exploit?

Grundsätzlich gilt, dass die digitale Infrastruktur vom Internet bis zum Smart Home noch zu viele Schwachstellen aufweist. Schwachstellen sind Softwareprodukte, Digitale Geräte oder Netzwerke, die Sicherheitsaspekte ungenügend in der Architektur und Implementierung berücksichtigen. Aber auch sorglose (bis naive) Nutzer bilden eine Schwachstelle. Hier gibt es Handlungsbedarf: Sowohl in regulatorischer Hinsicht, als bei Unternehmen (Kompetenzaufbau, Investitionen in Cyber Security).

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Author

Der Autor ist Manager in der Softwareindustrie mit internationaler Expertise: Prokurist bei einem der großen Beratungshäuser - Verantwortung für den Aufbau eines IT Entwicklungszentrums am Offshore-Standort Bangalore - Director M&A bei einem Softwarehaus in Berlin.