Aus aktuellem Anlass gibt’s ein Update zum Stand der Dinge der Indischen Wirtschaft – mit Fokus auf die IT Wirtschaft. Warum?

Anfang Juni nehme ich an einer Podiumsdiskussion teil, im Rahmen eines Symposiums zum Thema „Incredible India“. Die Fragestellung der Podiumsdiskussion: „Wo steht Indien heute wirtschaftlich?“ – Weitere Diskutanten sind Chaitanya Divekar, Partner bei Divekar Wallstabe & Schneider Ltd., Indien, außerdem Martin Wörlein, Partner Rödl & Partner, Neu-Delhi und schließlich Peter Born (angefragt), Chief Representative Officer Commerzbank, Mumbai.

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Die Indische IT Wirtschaft

Zunächst schauen wir uns einmal die indische IT Wirtschaft an. Grundsätzlich gilt, die Wachstumsdynamik ist ungebrochen: Der Gesamtumsatz der IT-BPM-Branche (ohne E-Commerce) überschritt die 200-Milliarden-Dollar-Marke und erreichte im Geschäftsjahr 2022 227 Milliarden US-Dollar. Die Exporteinnahmen aus dieser Branche (ohne E-Commerce) wurden im Geschäftsjahr 2022 auf fast 178 Mrd. US-Dollar geschätzt. Diese Zahlen bedeuten insgesamt einen Anteil von mehr als 50% am globalen Outsourcing-Markt. In den nächsten Jahren bis 2025 sollten zudem über 45 neue Rechenzentren entstehen.

Mit fünf Millionen direkten Arbeitsplätzen ist der IT-Sektor der größte private Arbeitgeber in Indien; rechnet man ebenfalls die indirekten Arbeitsplätze mit ein, belaufen sich die Zahlen an Arbeitsplätzen auf rund 12 Millionen. Die Anbieter von IT Outsourcing umfassen natürlich die heimischen Big Player wie Infosys, TCS oder WIPRO. Es gilt aber auch: Das indische Modell wurde von globalen Beratungsfirmen wie Accenture, IBM, Deloitte und EY weitgehend übernommen. Diese westlichen Player betreiben riesige Einrichtungen in Indien. Anfang 2020 gab es in Indien mehr als 1 400 IT Entwicklungszentren großer westlicher Player (ca. 70% im Besitz großer amerikanischer Firmen) mit insgesamt mehr als 1 Mio. Beschäftigten (Quelle: Ken, indische Nachrichtenwebsite.

Vergleichen wir diese Zahlen einmal mit jenen in Deutschland; das Bezugsjahr der Zahlen ist nicht identisch, aber die Größenordnung wird deutlich: Die ICT-Exportzahlen, worunter neben IT-Services auch noch Software und IT-Hardware fallen, lagen im Jahr 2017 in Deutschland bei 37,4 Milliarden. Der Gesamtwertbeitrag der Softwareindustrie lag bei 152,6 Milliarden Euro (5,2 Prozent des BIPs) und die direkte Wertschöpfung bei 62,3 Milliarden Euro (2,1 Prozent des BIPs). Mit ungefähr 645.000 direkten Jobs (1,5 Prozent aller Stellen in Deutschland) und 1,9 Millionen indirekten Jobs (4,5 Prozent aller Stellen in Deutschland) liegt der direkte Jobanteil prozentual leicht über dem europäischen Durchschnitt. (Quelle: Fraunhofer Studie, 2021).

Was interessant ist: Inzwischen sind zahlreiche indische Mitarbeiter direkt im Mutterhaus in Deutschland angestellt. Viele von ihnen sind mit einer Blue Card nach Deutschland gekommen. Laut Statistischem Bundesamt (Destatis) waren Ende 2021 rund 70 000 Inhaberinnen und Inhaber einer Blue Card im Ausländerzentralregister erfasst. Mit Abstand die meisten von ihnen kamen aus Indien (28 Prozent bzw. 19.900 Personen).

Indiens Wirtschaft im Allgemeinen

Die Wirtschaft Indiens liegt in Bezug auf das nominale Bruttoinlandseinkommen mit etwa 3.390 Mrd. US-Dollar an weltweit fünfter Stelle (zum Vergleich: Deutschland: 4.086 Mrd. US-Dollar). Das BIP nach Kaufkraftparität (purchase power parity) liegt um den Faktor 3,5 höher, nämlich bei 11.900 Mrd. US-Dollar (Deutschland: 5.370 Mrd. US-Dollar) – und damit an dritter Stelle weltweit, nach den Vereinigten Staaten, und der Volksrepublik China.

Das nominale BIP pro Kopf liegt bei 2.390 US-Dollar (Deutschland: 48.760 US-Dollar; China: 11.200 US-Dollar), während das BIP nach Kaufkraftparität pro Kopf 8.400 US-Dollar beträgt (Deutschland: 64.090 US-Dollar).

Angesichts der De-Risiking Strategie Europas gegenüber China und dem Wegfall Russlands als Handelspartner erlebt Indien aktuell erneut eine neue Konjunktur. Und das spiegelt sich etwa auch in einer vergleichweise stabilen Entwicklung der Direktinvestitionen (mit einem erkennbaren positiven Trend):

Trotz großer wirtschaftlicher Erfolge in den vergangenen 20 Jahren gilt Indien oft als ein – aus wirtschaftlicher Sicht – unerfülltes Versprechen. Dies hat im Wesentlichen zwei Ursachen. Zum einen war die wirtschaftliche Dynamik viele Jahrzehnte eher gering, sodass auch die hohen Wachstumsraten der jüngeren Zeit das niedrige Ausgangsniveau (vgl. die Zahlen zum BIP pro Kopf weiter oben) nicht schnell kompensieren konnten. Zum anderen hat Indien seine Märkte nie so radikal geöffnet, wie man sich dies aus Sicht der entwickelten Länder, wie denen Europas, gewünscht hätte.

Es lohnt ein frischer Blick auf Indien, dazu beziehe ich mich auf verschiedene Quellen, vor allem aber auf den Wirtschaftsdienst. Beginnen wir einmal mit den Stärken, Vorteilen.

  • Indien verfügt insbesondere – auch im Vergleich mit China – über eine günstige Altersstruktur seiner Bevölkerung.
  • Indien bildet, so der langjährige Spiegel-Redakteur Olaf Ihlau, pro Jahr 500.000 Informatiker, Techniker und Ingenieure aus. Jährlich treten 250.000 neue Ingenieure in den Arbeitsmarkt ein. Der Wermutstropfen hierbei: Nur ein Viertel davon wird den Erwartungen westlicher Unternehmen gerecht. Das hat einem stetigen Wachstum der IT Wirtschaft aber keinen Abbruch getan, gleichwohl gilt, dass hier in großem Maße in Training und learning-on-the-job investiert wurde.
  • Das „Know-how“ ausländischer Unternehmen wird in Indien deutlich mehr respektiert als in China, wo ausländische Investoren fürchten müssen, dass neue Technologien rasch kopiert werden.
  • Nun zu den Herausforderungen.

  • Die größten Herausforderungen für das Wachstum und die Investitionen der indischen Wirtschaft sind nach einer Studie der Weltbank („Doing Business“) die mangelhafte Infrastruktur, Eingriffe und Auflagen der staatlichen Bürokratie und die weitverbreitete Korruption. Hinzu kommen Arbeitsmarktregulierungen, die in einigen Bereichen der Wirtschaft zum Beispiel betrieblich notwendige Kündigungen von Arbeitskräften sehr erschweren.
  • Die Größe des indischen Marktes beträgt bestenfalls ein Fünftel des chinesischen. Schon allein wegen des riesigen Einkommensunterschieds kann Indien keinen direkten Ersatz für den chinesischen Markt bieten. (vgl. den Vergleich des BIP pro Kopf Indien vs China weiter oben). Darauf deutet auch hin, dass ein großer Anteil der Bevölkerung für ihre Ernährung auf staatlich subventionierte Lebensmittel angewiesen ist.
  • Diese Herausforderungen spiegeln sich im industriellen Sektor: Die Modi-Regierung plante, den Anteil des industriellen Sektors auf 25 % des BIP zu steigern. Nach Angaben der Weltbank stagnierte der Anteil aber von 2014 bis 2018 bei 15,1 % bzw. nur noch 14,8 %. Als Folge der stark schrumpfenden Wirtschaft in der Coronapandemie, zählte der industrielle Sektor manchen Quellen zufolge nach 2016/2017 mit 51 Mio. Beschäftigten in der Periode 2020/2021 nur noch 27,3 Mio.. Ein Anzeichen für Verbesserungen liefert ein jüngeres prominentes Beispiel, nämlich die Investitionen von Apple. Dessen Zulieferer haben ihre Produktion in Indien ausgebaut und dabei offenbar auch den Qualitätsrückstand gegenüber der Produktion in China reduziert.
  • Die Demokratie wird – nach europäischem Verständnis – schwächer. Aufgrund der wachsenden Einschränkungen in der Meinungs- und Pressefreiheit wird Indien deshalb auch zunehmend als illiberale Demokratie bezeichnet.
  • Ein zusätzliches Hemmnis sind die geringen und nicht steigenden Ausgaben für Forschung und Entwicklung. 1998 gab Indien 0,70 % des BIP dafür aus, auf dem zwischenzeitlichen Hochpunkt 2008 waren es 0,86 %, aber 2018 (dem zuletzt verfügbaren Datenpunkt bei der Weltbank) waren es nur noch 0,66 %. Die Werte für China betragen demgegenüber in denselben Jahren 0,65 %, 1,45 % und 2,14 %, für Deutschland sind es 2,22 %, 2,62 % und 3,11 %.
  • Die Offfenheit der indischen Wirtschaft ist ein weiteres zentrales Thema für die ökonomische Entwicklung. Indien öffnete sich – historisch gesehen – vergleichsweise spät, nämlich erst 1991 (China: Ende der 1970er Jahre). Indiens zögerliche Haltung gegenüber der Globalisierung zeigte sich auch in der von Premierminister Modi 2020 während der Coronapandemie propagierten neuen Wirtschaftspolitik „Atmanirbhar Bharat“, die auf eine Stärkung der indischen Industrie und insgesamt eine größere wirtschaftliche Eigenständigkeit abzielt. Gleichwohl hat die indische Regierung 2022 neue Freihandelsabkommen abgeschlossen; unter anderem mit den Vereinigten Arabischen Emiraten; sie führt Verhandlungen über weitere Abkommen z. B. mit Australien, Großbritannien und der EU. Experten erwarten einen Abschluss der Verhandlungen mit der EU nicht vor 2024, wobei ein „Early Harvest“-Abkommen (rasch anwendbares Interimsabkommen) unwahrscheinlich ist.

    Noch ein Hinweis zur Struktur der indischen Wirtschaft: Deutschland hat eine Wirtschaftsstruktur, die bekanntermaßen vom Mittelstand geprägt ist; über 99 Prozent aller Unternehmen in Deutschland sind Kleine und Mittelständische Unternehmen (KMU), die mehr als die Hälfte aller Arbeitsplätze schaffen. Diese Struktur ist keineswegs typisch für Volkswirtschaften; in den USA etwa spielen Großunternehmen eine deutlich größere Rolle, dort erwirtschaften allein 20 Unternehmen (sic!) ein Viertel der gesamten Unternehmensgewinne des Landes.

    Diese Konzentration wirtschaftlicher Relevanz bei wenigen Großunternehmen ist in Indien sogar besonders ausgeprägt. Laut einer Studie von Marcellus Investment Managers, einer in Mumbai ansässigen Firma, entfielen im vergangenen Jahr fast 70% der Gesamteinnahmen der Indischen Wirtschaft auf wenige Unternehmen, gegenüber 14% vor drei Jahrzehnten. Ein schlagendes Beispiel ist Reliance Industries: Mit einem Reingewinn von 5,2 Mrd. US-Dollar in 2019 war das Unternehmen die profitabelste Firma Indiens – und trug 13% (sic!) zu den Unternehmensgewinnen des Landes bei. Das Konglomerat umfasst im Kern Raffineriebetriebe als auch den Mobilfunknetzbetreiber Jio. Das Unternehmen rangiert seit 1992 jedes Jahr (ohne Ausnahme) in den TOP 20 derjenigen Unternehmen, die die höchsten Gewinne einfahren.

    Last but not least der Blick auf eine Start-Up Industrie, die an Bedeutung gewinnt: Im The Economist vom 4ten April 2020 habe ich verblüfft gelesen, dass unter den TOP10 Unicorns weltweit sogar ein Indisches Unternehmen dabei ist („One97 Communication“, Fintech), aber kein einziges europäisches Unternehmen (sonst: 4x China, 4x USA, 1x Singapur). Indien hat aktuell etwa 80 000 Startups, in 2019 wurden etwa 10 Mrd. US-Dollar investiert (zum Vergleich in 2012: 3,1 Mrd. US-Dollar). Die bekanntesten StartUps sind Ola (Konkurrent zu UBER), Swiggy und Zomato (Essens-Lieferdienste), BigBasket (Online Supermärkte), Zoomcar (Autovermietung), Byju’s (Bildung) oder HighRadius. Es gibt auch im StartUp-Markt Herausforderungen (RedTape Bureaucracy, Cash Burn angesichts der BlitzScaling Strategien, Steuerliche Herausforderungen für Investoren). Aber der StartUp-Markt verändert die indische IT Landschaft.

    Das Handelsblatt resümierte Ende 2021: “Mit einer Gesamtzahl von rund 70 Einhörnern liegt Indien nur noch hinter den USA und China, die jeweils auf mehrere Hundert Einhörner kommen. Zum Vergleich: Der Marktforscher CB Insights kommt auf lediglich 19 deutsche Einhörner.“

    Zum Weiterlesen

  • Boomende Start-Up Szene in Indien: Chance für deutsche Unternehmen und Investoren
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  • Author

    Der Autor ist Manager in der Softwareindustrie mit internationaler Expertise: Prokurist bei einem der großen Beratungshäuser - Verantwortung für den Aufbau eines IT Entwicklungszentrums am Offshore-Standort Bangalore - Director M&A bei einem Softwarehaus in Berlin.