Es gibt in Deutschland rund elf Millionen Schüler*innen an allgemeinbildenden und beruflichen Schulen. Schlagzeilen machte der Schulbetrieb in den letzten Jahren und vor allem in der Corona-Pandemie zu Schlagworten wie fehlende Digitalisierung, Lehrermangel, soziale Durchlässigkeit und derlei mehr. Es ist klar: Die Bereitstellung eines modernen, sozial gerechten und zukunftsgerechten Bildungsangebots ist eine Herausforderung, die Gründe sind vielfältig.

In der öffentlichen Diskussion selten thematisiert: Auch die Schülerlogistik (sprich: Schülerbeförderung) wird in der Regel von Kommunen geleistet. Dabei geht es nicht nur um Routenplanung und die Ausschreibung an Busbetriebe, sondern etwa auch Antragsprozesse inklusive Berechtigungsprüfung. Ein Lösung für diese staatliche Aufgabe bietet das junge Unternehmen Stadt.Land.Netz (www.stadtlandnetz.de). Zu den Kunden von Stadt.Land.Netz zählen deutschlandweit Landkreise, Städte & Verbände unterschiedlichster Größe. Unter anderem die Stadt Duisburg, Landkreis Gotha, Landkreis Karlsruhe, Verkehrsverbund Mittelsachsen, Landkreis Landshut oder die Stadt Ulm.

Über die spezifischen Herausforderungen für digitale Tools an der Schnittstelle von Verwaltung und Bürgern, die Zusammenarbeit mit Regierungsorganisationen und die Digitalisierungsdynamik der Verwaltung spreche ich mit mit Lars Lehmann (Zum LinkedIn-Profil). Er ist Mit-Gründer und CTO von Stadt.Land.Netz.

Sebastian: Hallo Lars, schön, dass unser Interview geklappt hat. Fangen wir doch mal bei der Ausgangssituation an. Wie laufen denn Antragsprozesse und Logistikmanagement heute in vielen Kommunen oder Landkreisen?
Lars: Kinder haben die Pflicht, die Schule zu besuchen, also muss auch dafür gesorgt werden, dass sie Ihre Pflicht erfüllen können. Es müssen Schulen gebaut, Lehrer eingestellt und Unterrichtsmaterialien besorgt werden. Gleichzeitig muss es aber auch Wege geben, über die die Schulen erreicht werden können, also Fußwege und ein öffentlicher Personennahverkehr.

Für den Großteil der Schulkinder ist damit auch die meiste Arbeit getan, denn diese kommen zu Fuß, per Fahrrad oder mit dem Bus und einem Schuljahresticket in der Hand zur Schule. Jedoch ist es für ca. 10 Prozent der Schüler in Deutschland etwas aufwendiger, denn diese können weder das ÖPNV-Angebot nutzen, noch können Sie zu Fuß zur Schule laufen, was unter anderem am fehlenden ÖPNV-Anschluss oder an einer Behinderung liegen kann. In diesem Fall koordinieren und bezahlen die Schulämter den „freigestellten Schülerverkehr“ – also die Beförderung im Taxi oder dem Kleinbus.

Die Anträge für Fahrkarte oder Fahrdienst können als PDF heruntergeladen und als Brief oder Fax eingereicht werden. Im Amt wird geprüft und am Ende gibt es einen Bescheid. Dieser Prüfprozess ist von Verwaltung zu Verwaltung unterschiedlich und kann große Komplexität mit verschiedenen Instanzen und Beteiligten haben. So kann es Tage und manchmal auch Wochen bis zur Entscheidung dauern – aufwendig für die Verwaltung und frustrierend für die Antragsstellenden.

Dabei wird die heutige Prüfungs- und Planungsarbeit in der Schülerbeförderung maßgeblich von zwei Werkzeugen dominiert: Microsoft Excel und Google Maps. Beides sind für sich genommen gute Werkzeuge, jedoch den Anforderungen einer „Verwaltung der Zukunft“ und besonders dem Bereich der Schülerbeförderung nicht gewachsen – und das muss besser gehen.

Sebastian: Das führt uns ja fast natürlich zur Frage, wie die Idee für die Unternehmensgründung entstanden ist. Wie seid ihr darauf aufmerksam geworden, dass es in diesem Bereich Optimierungspotenzial gibt?
Lars: Ich habe selbst für einen großen Träger der Schülerbeförderung gearbeitet und dort die Schülerbeförderung für einen Landkreis geleitet. Wir haben fast vollständig auf Microsoft Excel und Google Maps gesetzt und das um Tausende Schulkinder zu Verwalten und zu befördern. Da ich in meiner Freizeit leidenschaftlich an Software gearbeitet habe, hat es mir in den Fingern gekribbelt.

Also habe ich zur Verbesserung meiner eigenen Arbeit und vor allem auch für die meiner Kolleg:innen eine Software entwickelt, die viele der wiederkehrenden Aufgaben abnimmt – so entstand VIA. Natürlich ist von dem „alten“ VIA heute nicht mehr viel übrig. Es hat sich in den Jahren viel getan und durch die kontinuierliche Verbesserung, das Feedback und Wissen unserer Kunden und schließlich auch das Skillset unserer Mitarbeiter:innen hat sich VIA deutlich weiterentwickelt – aber die Richtung blieb die gleiche. Wir wollen mit VIA alte Prozesse aufbrechen und durch die Digitalisierung neu Denken und so zu einer besseren und zukunftsfähigen Verwaltung beitragen.

Sebastian: Kannst Du einmal skizzieren, was Eure Software an wichtigsten Features anbietet und welche Features von Verwaltungen am meisten geschätzt werden?
Lars: Im Grunde ist VIA eine stark spezialisierte Routenplanung und Schülerverwaltung. VIA optimiert und berechnet Beförderungsrouten und stellt ein großes Set an Funktionen zur Kommunikation mit allen Beteiligten wie Schule und Verkehrsunternehmen zur Verfügung. Außerdem prüft VIA die Anträge der Schulkinder automatisch und nimmt so den Mitarbeiter:innen in der Verwaltung viel Arbeit ab.

Viele Schüler gleichzeitig und mit einer Vielzahl an verfügbaren Fahrzeugen und Endpunkten möglichst optimal zu planen, ist heute ohne Software eine unlösbare Aufgabe. Mit VIA geht das praktisch auf Knopfdruck und es werden individuelle Anforderungen wie eine Rollstuhl-Beförderung oder Begleitpersonen berücksichtigt.

Eine Verwaltung braucht natürlich auch immer entsprechende Dokumente, die sich schnell mit Textbausteinen und je nach Fall dynamisch generieren und ablegen lassen. Daneben gibt es eine ganze Reihe spezieller Funktionen wie dem Vergabe-Manager, das den Verwaltungen beim Ausschreiben der Beförderungsleistungen hilft.

Sebastian: Gab es spezifische technische Herausforderungen für die Lösung? Wie einfach ließen sich die Anforderungen zum Datenschutz umsetzen?
Lars: Am Anfang dachten wir, dass wir es mit unserem Plan, VIA im SaaS-Modell zu betreiben, schwer haben würden, dem war aber zum Glück nicht so. Verwaltungen haben sich in den letzten Jahren zunehmend geöffnet und sehen den Nutzen in Cloud-Lösungen. Zum einen, da es meist einfacher ist, die Software vom Hersteller betreiben und warten zu lassen und zum anderen weil wir uns früh und intensiv mit dem Thema Datenschutz und Datensicherheit auseinandergesetzt haben.

Als junges Softwareunternehmen ist es natürlich eine Herausforderung, gleich mit den anspruchsvollen Prozessen zu arbeiten, wie sie der Datenschutz vorgibt und sicherlich haben wir dadurch auch schon ein paar graue Haare bekommen. Es ist aber letztendlich ein enorm wichtiges Thema und ein wichtiger Erfolgsfaktor. Wir hatten den Vorteil, dass wir als junges Unternehmen auf einer grünen Wiese anfangen konnten und nicht ein gewachsenes Unternehmen datenschutzkonform umstrukturieren mussten. Es ließen sich also die meisten der Prozesse gut umsetzen und heute stehen wir besser da, als so manch großes IT-Systemhaus.

Sebastian: Stadt.Land.Netz ist ja deutschlandweit aktiv. Gibt es wesentliche Unterschiede in den Anforderungen beim Antragsprozess zwischen den Ländern?
Lars: Ja, es gibt Unterschiede im Antragsprozess. Viele dieser Unterschiede beziehen sich auf die Entscheidungsgrundlage und auf die Kostenbeteiligung. Wenn der Antrag gestellt wird, wird geprüft, ob grundsätzlich ein Anspruch besteht und wenn ja, welche Beförderung infrage kommt. Hier gibt es von Landkreis zu Landkreis unterschiedliche Kriterien, die in den jeweiligen Satzungen festgeschrieben stehen. Manche haben einen dicken Prüfkatalog, andere wiederum machen es Ihren Bürgern so einfach wie möglich. Häufig wird aber geprüft, ob eine minimale Entfernung zwischen Schule und Wohnung eingehalten wird, was die jeweils zuständige Schule ist, ob es eine ÖPNV-Verbindung gibt oder ob eine körperliche Einschränkung vorliegt.

Im Regelfall läuft die Antragsstellung über Papierformulare und nur wenige haben ein entsprechendes Online-Portal im Einsatz. Hier gibt es aber einen steigenden Druck, da das Onlinezugangsgesetz (OZG) vorschreibt, eine Vielzahl der Verwaltungsleistungen bis 2022 über Online-Portale zur Verfügung zu stellen. Im Großen und Ganzen wird sich hier aber an der eigentlichen Verwaltungsarbeit nicht viel ändern, lediglich die Formulare werden online ausgefüllt und eingereicht. In der Verwaltung werden diese dann trotzdem händisch bearbeitet.

Hier denken wir übrigens schon einen Schritt weiter, denn mit unserem Online-Portal myVIA findet die Prüfung bereits beim Ausfüllen des Formulars statt. Antragsstellerinnen haben so die Möglichkeit, schon vorm Einreichen des Antrags eine Auskunft über die mögliche Entscheidung zu erhalten. Die eingegebenen Informationen landen dann direkt in VIA und können ohne Abtippen oder kopieren weiter verarbeitet werden.

Wir haben mit der Stadt Duisburg myVIA zusammen entwickelt und Anfang August gestartet. So kann die Stadt Duisburg den Antragsprozess von bisher 6 Wochen auf 2 Wochen reduzieren. Bis nächstes Jahr startet myVIA auch in zahlreichen anderen Regionen.

Sebastian: Schauen wir mal nach Österreich oder Frankreich: Macht die Unternehmensentwicklung über die Landesgrenze Sinn, gibt es dort ähnliche Anforderungen an das Management der Schülerbeförderung?
Lars: VIA ist nach den Bedürfnissen der Verwaltungen in Deutschland gebaut und wir hatten noch keine Gelegenheit, die Verwaltungsstrukturen im europäischen Ausland kennenzulernen. Wir sind aber stark daran interessiert und halten immer die Augen offen. Tatsächlich haben wir aber noch mit der hiesigen Verwaltungslandschaft alle Hände voll zu tun.

Sebastian: Wie ist Eure Erfahrung in der Zusammenarbeit mit Verwaltung? Auf einer Veranstaltung diesen Sommer beklagt etwa der Gründer Karsten Neugebauer, dass Entscheidungsprozesse in Politik und Behörden schlicht zu langsam seien.
Lars: In unserer täglichen Arbeit haben wir im Großen und Ganzen gute Erfahrungen gemacht. Ich glaube, was vor allem an der leichten Zugänglichkeit liegt. Wir müssen nicht groß erklären, welche Mehrwerte unsere Anwendung mit sich bringt. Sie sind leicht zu verstehen, sofort spürbar und wirken sich jeden Tag auf die Arbeit der Kolleginnen aus. Auch ist der Leidensdruck bereits jetzt schon deutlich vorhanden, denn die alten Arbeitsweisen funktionieren unter den wachsenden Anforderungen nicht mehr. Eine einfache und eine schnellere Verwaltung, weniger Kosten und ein höherer Servicegrad sind die Wünsche und Ziele der Digitalisierung.

Natürlich haben wir aber auch die Mühlen der Verwaltung zu spüren bekommen. So dauert die Anbahnung von Projekten selten weniger als 6 Monate, häufiger mehr als ein Jahr und in außergewöhnlichen Fällen auch mal mehrere Jahre. Was häufig auf Probleme in der internen Strukturierung, der Planung von finanziellen Mitteln und natürlich auch den Aufwänden einer Vergabe zurückzuführen ist.

Gegenbeispiel war hier die Stadt Duisburg, wo Digitalisierung und Kämmerei in einer Hand liegen und ein professionelles und technologisch gut aufgestelltes Team für einen nahezu reibungslosen Ablauf gesorgt hat – es geht also auch deutlich anders, wenn die entsprechenden Kompetenzen vorhanden und finanzielle Mittel eingeplant sind.

Sebastian: Wie stark war Euer Unternehmen von der Corona-Pandemie betroffen? Hat die Aussetzung des Schulbetriebes Investitionsentscheidungen verzögert? Oder gab es gar spezifische Anforderungen, etwa hinsichtlich einer geringeren Sitzauslastung in Schulbussen, um die Ansteckungsgefahr zu minimieren?
Lars: Anfangs war natürlich eine große Unsicherheit zu spüren. Geplante Projekte haben sich verschoben oder wurden ausgesetzt. Auch wurden viele der Mitarbeiterinnen in den Ämtern an die Gesundheitsämter zur Nachverfolgung „ausgeliehen“. Jetzt ist davon nur noch wenig zu spüren, sogar eher das Gegenteil ist der Fall. Durch den Handlungsdruck, den Corona mit sich gebracht hat und die Anweisung, datenschutzkonform mit Excel, Google Maps und Dateifreigabe im Homeoffice zu arbeiten, haben die Schulämter die Chance der Digitalisierung zu spüren bekommen.

Als der Schulbetrieb für die Kinder systemrelevanter Eltern wieder aufgenommen wurde, haben wir mit unseren Kunden einen entsprechenden Prozess mit VIA gebaut. Gerade in einer solchen Situation zeigt sich der Mehrwert einer flexibel einsetzbaren Software.

Auch wenn Corona für uns erstmal eine Zeit der Unsicherheit war, profitieren wir gerade sehr stark von dem aufkommenden „Digitalisierungs-Druck“ und unsere Kunden haben ja schließlich auch etwas davon.

Sebastian: Lieber Lars, vielen Dank für Deine Zeit und dieses Gespräch! Vor allem aber wünsche ich Dir und Stadt.Land.Netz weiterhin viel Erfolg!

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Der Autor ist Manager in der Softwareindustrie mit internationaler Expertise: Prokurist bei einem der großen Beratungshäuser - Verantwortung für den Aufbau eines IT Entwicklungszentrums am Offshore-Standort Bangalore - Director M&A bei einem Softwarehaus in Berlin.