Deutschland hängt bei der Digitalisierung hinterher. Eine Binsenweisheit. Also, alles gesagt? – Noch nicht alles, finden die beiden Autoren von „Zukunft verpasst?“, und legen ein Buch vor mit einer überzeugenden und tiefgreifenden Ursachenanalyse. Auch ein 10-Punkte Programm für ein digitales Durchstarten findet sich am Ende des Buches.
Das Buch ist in weiten Teilen ein veritabler Wirtschaftskrimi und eine schonungslose Abrechnung mit jener Elite, die während der Zeit der Grundsteinlegung der Digitalindustrie die Chancen verspielt hat und darum Verantwortung für den Rückstand Deutschlands bei der Digitalisierung trägt: “Die damals verantwortliche Manager- und Politikergeneration stand für ein nicht mehr zeitgemäßes Verständnis der Wirtschaft und der damit verbundenen Geschäftsmodelle. Zum Teil ist diese Haltung zurückzuführen auf fehlendes Einfühlungsvermögen für moderne Trends und mangelnde Bereitschaft, sich mit neuen Technologien auseinanderzusetzen.“ (S. 33).
Die Autoren Dr. Boersch und Middelhoff sehen die kritische Periode der kollektiven Fehlentscheidungen in den Jahren 2000 bis 2010 (das „verlorene Jahrzehnt“). Eingeleitet wurde diese Periode durch den Zusammenbruch des „Neuen Marktes“, einem (aus Sicht der Autoren etwas unglücklich – weil unscharf – konzipierten) Börsenindex „NEMAX50“, der am 10. März 2000 seinen Allzeithoch erreichte und hiernach ins Bodenlose stürzte. Im Juni 2003 wurde der NEMAX schließlich von der Deutschen Börse eingestellt. Am Neuen Markt hatten sich insgesamt mehr als 200 Milliarden Euro in Luft aufgelöst.
Die unreflektierte Reaktion auf das Desaster des Neuen Marktes war in weiten Teilen der Deutschen Wirtschaft eine Abwendung vom Internet, ein unglückliches Maß an Technologiefeindlichkeit. Mit verheerenden Konsequenzen: “Junge, talentierte und international ausgebildete Nachwuchsmanager, die an Internetthemen gearbeitet hatten, mussten häufig über Nacht ihren Arbeitsplatz räumen. Sie wurden bisweilen behandelt, als hätten sie eine schwere Straftat begangen. Innerhalb von weniger als 18 Monaten verließ eine Heerschar großer Talente und Hoffnungsträger ihre Unternehmen und musste sich einen neuen Arbeitsplatz auf der internationalen Bühne suchen oder sogar wieder bei Beratern anheuern.“ (S. 77).
„Zukunft verpasst? – Warum Deutschland die Digitalisierung verschlafen hat. Und wie uns die Krise hilft, den Anschluss doch noch zu schaffen“, Autoren: Dr. Cornelius Boersch, Thomas Middelhoff, adeo Verlag, 24 Euro, Erscheinungsjahr 2020, 320 Seiten
“Zukunft verpasst?“ von Cornelius Boersch, Thomas Middelhoff: Das 10-Punkte-Programm für ein digitales Durchstarten in Deutschland
Das Buch legt den Finger in die Wunde. Hier werden Ross und Reiter benannt, auch vor den Granden der Deutschland AG macht die Ursachenanalyse nicht halt. Das Buch ist insofern der Versuch einer schmerzhaften Vergangenheitsbewältigung. Dabei bezieht sich die Kritik keineswegs nur auf die Vergangenheit (das „verlorene Jahrzehnt“), sondern ist ganz explizit auch eine Analyse des Ist-Zustandes. In der heutigen Wirtschaft machen die Autoren etwa ein „Konformitäts-Phänomen“ aus, stellen den „Club der alten Herren“ infrage. Über die konservativen Volksparteien schreiben die Autoren ernüchtert: “Es scheint bei ihnen an dem grundlegenden Verständnis zu mangeln, welche Bedeutung die Digitalisierung und deren Möglichkeiten für uns haben.“.
Die Analyse ist schonungslos. Es ist eine unbequeme, unverdauliche Wahrheit. Die Autoren setzen dem gleichwohl eine Idee entgehen, wo der Ausweg aus dem Jammertal zu finden sein könnte. Dr. Boersch und Middelhoff analysieren Transformationspfade für Unternehmen – von einer “Corporate Venture Strategie” (Der leichte Weg) bis hin zur „Vollständigen Transformation des Stammgeschäfts“ (Der beschwerliche Weg).
Eines jedoch wird der Leserschaft schnell klar: Eine evolutionäre (sprich: inkrementelle) Weiterentwicklung von Politik und Wirtschaft in Deutschland wird nicht ausreichen, um eine Trendwende einzuleiten. Auch ein „Ruck“ (Roman Herzog) beschreibt die Kraftanstrengung nur unzureichend, die nun eigentlich notwendig wäre. Was die beiden Autoren am Ende des Buches im „10-Punkte-Programm“ vorstellen, ist nicht weniger als eine Revolution. Die Bezeichnung „10-Punkte-Programm“ ist hier im Übrigen etwas irreführend, es suggeriert 10 Maßnahmen an relevanten Stellschrauben; vielmehr handelt es sich um 10 Oberpunkte, denen je eine Vielzahl von Maßnahmen zugeordnet sind.
Die Forderungen sind je für sich sinnvoll, viele Ideen dürften der Leserschaft auch bereits aus dem Diskurs zur Modernisierung der Deutschland AG bekannt sein. Etwa der „Hightech-Gründerfonds“ (findet sich etwa auch bei Verena Pausder: „Das Neue Land“), den die Autoren mit 100 Mrd. Euro dotieren würden (zum Vergleich: Agentur für Sprunginnovation, Sprin-D, kann Fördermittel von ca. 1 Mrd. Euro vergeben). Schaffung eines Digitalministeriums. Verzahnung von Digitalisierung, Wissenschaft, Forschung und Technologie an den Universitäten. Schaffung einer Börse für Start-ups im Technologiebereich.
Warum nun eine Revolution? – Zum einen aufgrund der schieren Menge an Reformvorschlägen, zum anderen aufgrund der revolutionären Qualität zahlreicher Forderungen. Nachfolgend einige Forderungen, die aus der Argumentation des Buches nachvollziehbar sind, aber wohl ein historisch einmaliges Momentum der Reformbereitschaft erfordern dürften: „Aufgabe der staatlichen Beteiligungen an der Telekom (Bund) und an VW (Land Niedersachen).“ – „Gründung eines eigenen Unternehmens als Voraussetzung für einen Masterabschluss (Beispiel: Cornell Tech)“ – „Entwicklung von Vergütungskonzepten für Lehrer und Dozenten in Abhängigkeit von deren digitalen Kompetenz.“ – „Abschaffung aller Subventionen für nicht systemrelevante – das heißt, nicht zukunftsträchtige – Unternehmen.“ – „Begrenzung der Legislaturperioden für alle politischen Ämter auf zwei Amtszeiten.“ – „Voraussetzung für die Ausübung eines Parteiamtes ist ein Mindestmaß an digitaler Kompetenz, fundierte Sprachkenntnisse in drei Sprachen und nachgewiesene wirtschaftliche Kenntnisse.“
Sehr interessant fand ich den Punkt „Die strategische Planung einer Volkswirtschaft ist zwingend notwendig.“ Bemerkenswert deshalb, da er aus der Feder eines Autors stammt, der lange Jahre als Wirtschaftsberater für die FDP-Spitze tätig war. Ich stimme dem im Übrigen vollständig zu. Ohne strategische Zielsetzungen geht es nicht. Das Mondprogramm der 1960er Jahre (gestartet und J.F. Kennedy) ist ein koordiniertes Technologieprogramm, das als Benchmark dienen kann. In gleicher Weise verfolgt die Volksrepublik China in systematischer Weise die Entwicklung zur High-Tech Nation: Es gibt den ehrgeizigen Plan der Zentralregierung (veröffentlicht in 2017), China bis 2030 in das weltweit führende Land der Innovation im Bereich KI zu machen (vergleiche dazu auch Kai-Fu Lee: „AI-Superpowers. China, Silicon Valley und die Neue Weltordnung“).
Mein Fazit zum Buch: Ein Must-Read.
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