“Deutschland, ein Wirtschaftsmärchen. Warum es kein Wunder ist, dass wir reich geworden sind“, von Ulrike Herrmann, erschienen Februar 2022 im PIPER Verlag, 300 Seiten, 12 EUR (Taschenbuchausgabe)

Das Buch ist äußerst unterhaltsam und kurzweilig geschrieben. Der Autorin Herrmann ist auf 250 Seiten eine Wirtschaftsgeschichte der vergangenen 90 Jahre gelungen, und hierbei die Schwerpunkte klug zu setzen. Dabei gelingt es ihr zudem, sehr viele wirtschaftliche Zusammenhänge nachvollziehbar zu machen, die Stellhebel von Wirtschaftspolitik herauszuarbeiten und auch, die Bedeutung des psychologischen Momentums sowie der Erwartung von Marktteilnehmern sichtbar zu machen. (Besonders greifbar etwa während der 1te Ölkrise: “Diese Preisexplosion hatte allerdings nichts mit dem Ölembargo zu tun, wie sich bald herausstellen sollte, denn in Wahrheit reduzierten die arabischen Länder ihr Angebot gar nicht [sic!]. Stattdessen hatten sie ihre Öllieferungen sogar erhöht! Während in Westeuropa die Autos sonntags in den Garagen bleiben mussten, wurden in den arabischen Häfen bis zu 44 Prozent mehr Rohöl verschifft als noch im Vorjahr.“).

Der unterhaltsame und kurzweilige Charakter des Buches rührt daher, dass Autorin Herrmann aus dem Wirtschaftsgeschehen bisweilen geradezu einen Wirtschaftskrimi macht. Einige Beispiele zur Wortwahl: “Der Kanzler wurde düpiert, und [ÖTV-Chef] Kluncker triumphierte (…) Es ist tragisch, dass die Gewerkschaften damals auf hohen Löhnen beharrten, weil sie damit ihren eigenen Untergang provozierten.“. … düpieren, triumphieren, tragisch, Untergang … Sie verstehen, was ich meine.

Die Wirtschaftsjournalistin Ulrike Herrmann verfolgt im Übrigen mit dem Buch keine wissenschaftlichen Ambitionen, sondern will Verständnis für den historischen Kontext der heutigen Wirtschaft liefern, und dabei wirtschaftliche Zusammenhänge vermitteln. Die kompakte Darstellung von 90 Jahren Wirtschaftsgeschichte gelingt auch deshalb, weil Herrmann die unglaubliche Anzahl an politischen Weichenstellungen, Meilensteine, wirtschaftlichen Institutionen und Ereignissen jeweils mit sehr wenigen Worten beschreibt und einordnet – wohingegen ein wissenschaftlich-neutraler Ansatz eine 360-Grad Betrachtung sowie Darstellung unterschiedlicher wissenschaftlicher Meinungen erfordert hätte. Das macht Herrmann bewusst nicht, und als Leser*in sollte man wissen, dass Herrmann als Wirtschaftskorrespondentin bei der tageszeitung (taz) den roten Faden zur Wirtschaftsgeschichte tendenziell eher aus einer eher linkspolitischen Perspektive entwickelt.

Das tut dem Lesevergnügen keinen Abbruch, die Co-Lektüre eines Buches von einem eher konservativen Autoren bzw. Autorin eröffnet dann nochmals eine andere, komplementäre Perspektive auf das Wirtschaftsgeschehen. Der tendenziell eher linkspolitische Blick auf die Wirtschaftsgeschichte bedeutet im Übrigen keineswegs, dass Herrmann im Buch die Fahne des Sozialismus hochhält und Fundamentalkritik an der marktwirtschaftlichen Ausrichtung der BRD übt. Ganz und gar nicht, tatsächlich liefert das Buch hochspannende und kompakte Analysen über die Schwächen der sozialistischen Wirtschaft in der DDR, anbei ein paar Auszüge:

“Von Anfang an erwies es sich als schwierig bis unmöglich, den Fluss von Rohstoffen, Vorprodukten und Ersatzteilen störungsfrei zu organisieren. Die Warnowwerft in Rostock stellte damals einen Vergleich mit der Hamburger Werft Blohm&Voß an: Die Hamburger benötigten nur sechs Einkäufer und drei Bürokräfte, um Zulieferungen zu sichern. In Rostock waren damit 95 Arbeitskräfte beschäftigt. Die Planwirtschaft entwickelte sich zu einem bürokratischen Monstrum.“ oder: “Richtige Exportmärkte gab es hingegen kaum noch. Bis zum Krieg hatte das Deutsche Reich vor allem Westeuropa beliefert, aber diese traditionellen Kunden hatte die DDR nun verloren. In Osteueropa wiederum gab es kaum Abnehmer, weil die Länder dort noch ärmer waren als die DDR.“

Einer der Schwerpunkte des Buches ist – der Titel legt es nahe – das „Wirtschaftswunder“ nach dem Zweiten Weltkrieg, ebenso die Wirtschaftspolitik von Ludwig Erhard. Kurz gesagt: Ludwig Erhard kommt wirklich nicht gut weg in dem Buch, die relevanten Weichenstellungen für das Wachstum Deutschlands habe nicht Erhard vorgenommen, sondern in weiten Teilen die US-Amerikaner als Besatzungsmacht. Es ist darum auch nicht verwunderlich, dass die Ludwig Erhard Stiftung das Buch in einer Rezension zerreißt. Hier heißt es: Der Autorin Ulrike Herrmann kommt das schmachvolle Verdienst zu, die jüngere deutsche Wirtschaftsgeschichte in ein weit linkes bis grünes Weltbild hineinzuprügeln.. Wertet man sonst die Stimmen zu diesem Buch aus, scheint die Ludwig Erhard Stiftung eine Einzelmeinung zu sein. Die Bewertung auf Amazon liegt bei einer respektablen 4,5 (ca. 200 Bewertungen). Der Deutschlandfunk wiederum schreibt:

”Viele der Kritikpunkte am deutschen Wirtschaftswunder sind bereits bekannt, doch Ulrike Herrmann spitzt sie radikal zu. Anhänger der sozialen Marktwirtschaft werden einwenden, dass sie die Verdienste deutscher Politik allzu gering einschätze. Im Buch räumt Herrmann selbst ein, dass Konrad Adenauer oft zukunftsweisendere Entscheidungen getroffen hätte als Ludwig Erhard. Und ihre ökonomischen Alternativvorschläge bleiben skizzenhaft. Das betrifft allerdings nur Details, die den Wert des Buches nicht mindern. Denn es untergräbt stichhaltig den Mythos, das reiche Exportland Deutschland sei ein soziales Muster-exemplar und könne auch ohne Europa auf eigenen Beinen stehen.“

Kurz: Das Buch erhält von mir das Prädikat „sehr lesenswert“ und „sehr unterhaltsam“. Viel Spaß bei der Lektüre!

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  • Author

    Der Autor ist Manager in der Softwareindustrie mit internationaler Expertise: Prokurist bei einem der großen Beratungshäuser - Verantwortung für den Aufbau eines IT Entwicklungszentrums am Offshore-Standort Bangalore - Director M&A bei einem Softwarehaus in Berlin.