Gaia-X: Das Projekt im Überblick

Gaia-X ist die Europäische Antwort auf die US-amerikanischen und chinesischen Cloud-Hyperscale-Anbieter (AWS, Azure, Google Cloud, IBM Cloud, Alibaba Cloud). Gaia-X ist allerdings kein „European Champion“, sondern ein Netzwerk von europäischen Anbietern. Innerhalb dieses Netzwerks werden Standards, Schnittstellen, Regeln zum Identitätsmanagement und ein Abrechnungssystem implementiert. Dies soll „Interoperabilität und Portabilität von Infrastruktur, Daten und Diensten ermöglichen“. Es sollen hohe Standards zu Datenschutz, Datensicherheit und Energieeffizienz gelten.

Das klingt noch ziemlich abstrakt. Lassen uns dazu einmal einen konkreten „Use Case“ anschauen. Wie soll das in der Praxis funktionieren? Es gibt dazu ein anschauliches Erklärvideo (in Englisch). Ein Nutzer möchte etwa handschriftlich ausgefüllte Formulare in Papierform in digitale Daten umwandeln, und zwar mithilfe eines trainierten KI-Algorithmus. Der Nutzer geht dafür in das GAIA-X Portal und wählt dazu einen passenden Algorithmus aus. Für den tatsächlichen Bearbeitungsprozess benötigt der Nutzer noch Komponenten wie Rechenkapazität. Auch das klickt er sich zusammen, wobei er bei jedem Auswahlschritt auswählen kann, welchen Kriterien diese Komponente genügen muss; es gibt Sicherheits-/Datenschutzkriterien oder Nachhaltigkeitskriterien. Und dann: Fertig. Nun können die Formulare eingelesen werden und mithilfe des KI-Algorithmus digitalisiert werden. Schauen Sie sich ruhig einmal das 6-Minuten Video an, die DEMO:

Der Optimismus der GAIA-X Protagonisten rührt etwa daher, dass das Vertrauen in die Lösungen der US-Anbieter nicht besteht. Das Handelsblatt berichtete in einem Artikel zur GAIA-X Cloud von einer Umfrage der Landesbank Baden-Württemberg. Dies habe ergeben, “dass mehr als 80 Prozent der mittelständischen Unternehmen deutsche oder europäische Cloud-Dienste nutzen, die aber weit weniger zu bieten haben als die US-Konkurrenten. Gerade einmal sechs Prozent der Firmen setzen auf US-Lösungen.“

Und Professor Dr. Martin Ruskowski von der TU Kaiserslautern erläutert in einem Kurzvideo auf YouTube, dass das Kernversprechen der Industrie 4.0 vor allem der Datenaustausch sei, und zwar zwischen Maschinen, aber auch der Datenaustausch zwischen Produktionsstandorten verschiedener Firmen. Eben dieser Austausch erfordere einen sicheren und vertrauensbasierten technologischen Rahmen, der etwa auch individuelle Vertraulichkeitserklärungen überflüssig mache. Genau darin sieht er den Vorteil von GAIA-X.

Zum Projekt GAIA-X gibt es aber auch zahlreiche kritische Stimmen. Nico Lumma, Managing Partner des Next Media Accelerators in Hamburg, bezeichnete das Projekt als Kopfgeburt: Der gerne bemühte Vergleich mit dem europäischen Erfolgsprojekt „Airbus“ sei irreführend, da es im heutigen Markt der Cloud-Anbieter – im Gegensatz zum Markt der Flugzeugbauer in den 1960er Jahren – einen Wettbewerb gebe. Sein Fazit: “So lange Cloud-Anbieter europäische Datenhaltung anbieten, wird das den meisten Firmen ausreichen und sie werden anhand anderer Kriterien entscheiden: Performance und Kosten.“

Der Spezialist für Cloud-Computing und Analyst bei Gartner, René Büst, weist darauf hin, dass die Vernetzung zahlreicher Akteure und die Schaffung von Schnittstellen eine „Herkulesaufgabe“ sei. Hieran könne das Projekt leicht scheitern. Ein einheitliches und zeiteffizientes Nutzererlebnis ist wichtig: Das ist keineswegs trivial. Bekanntermaßen ist selbst die Integration innerhalb eines Konzerns kein Selbstläufer, wie das Beispiel SAP zeigt: In den letzten Jahren stieg der Unmut der SAP-Kunden darüber, dass die verschiedenen zugekauften Bausteine in der SAP-Welt nur schlecht miteinander integriert waren.

Für das Cloud-Computing sind zudem Performanz und Ausfallsicherheit entscheidend. Hier hat AWS klar die Nase vorn, selbst der Tech Gigant Microsoft (mit seiner Cloud Azure) hinkt nach Einschätzung von Gartner hinterher; die redundante Kapazität von Microsoft könnte nicht ausreichen, um mit dem Ausfall von Rechenzentren aufgrund schlechten Wetters oder anderer Probleme zurechtzukommen. Selbst ohne Unterbrechungen hat sich die Kapazität als problematisch erwiesen. Da die Nachfrage im Zuge der Pandemie sprunghaft angestiegen ist und Millionen von Home-Office-Büroangestellten in die Cloud wechseln, konnte Azure zeitweise nicht mehr mithalten. Microsoft-Teams erlitten im März einen Stromausfall. Im Herbst 2020 führte Microsoft vorübergehende Ressourcenbegrenzungen für neue Azure-Abonnements ein. Hier stellt sich die naheliegende Frage, wie innerhalb von GAIA-X Ausfallsicherheit sichergestellt werden kann, wie ausreichend Investitionen sichergestellt werden, wie Daten gegebenenfalls über Unternehmensgrenzen hinweg redundant gesichert werden können.

Abgesehen von der technischen Herausforderung bei der Gestaltung der Schnittstellen gibt es auch juristisch einige harte Nüsse zu knacken. Nehmen wir an, es gelänge, die erforderlichen Investitionen in Rechenzentren auf mehrere Schultern zu verteilen. Es werden 3 neue Rechenzentren aufgebaut, die je untereinander per Glasfaserkabel verbunden sind, um Redundanz, hohe Performanz und Ausfallsicherheit sicherzustellen. Kommt es aber nun zu Engpässen, einem Ausfall oder Datenverlust: Welches der drei Unternehmen haftet dann? Wenn man eine solche unternehmensübergreifende Verteilung von Datenmengen nicht wünscht, dann erfordert das in Konsequenz einen einzelnen, großen Player mit einem geographisch breit aufgestellten und dichten Netz an Rechenzentren.

Eine Herausforderung löst GAIA-X zudem auch noch nicht: Die fehlende Abdeckung von Cloud-Kapazitäten jenseits Europas. Wenn Unternehmen wie Volkswagen (nutzt für die Werk-übergreifende IIoT den Marktführer AWS) oder auch Mittelständler mit globaler Präsenz ein global umspannendes Cloud-Computing-Angebot benötigen, dann kommen hierfür nur wenige Anbieter in Frage. Auch die Open Telekom Cloud betreibt keine Cloud-Rechenzentren jenseits der Europäischen Grenzen.

Und das Netzwerk von Akteuren ist nur so gut wie die einzelnen Akteure selbst. Wer die Diskussion im Netz verfolgt, stößt an diesem Punkt auf einige Skepsis. In einem Artikel auf heise online (“EU Cloud Gaia-X macht formelle Fortschritte“) macht ein ehemaliger Kunde von OHV im Kommentarbereich seinem Frust Luft: „Professionell finde ich sie nicht. Das Administrations-Web-UI hat sich über die Jahre immer wieder geändert, ist aber ziemlich erbärmlich. (…) Teilweise lassen sie (seit Jahren) Features vermissen, die selbstverständlich sind. Beispiel: Es gibt kein Accounting beim Object-Storage. Man kriegt eine Gesamtrechnung aber keine Auflistung, welcher Container welche Kosten verursacht. Deswegen unmöglich, das an eigene Kunden weiter zu verrechnen. Von Logs ganz zu schweigen. Beispiel: Nur mit einem Hack kriegt man API-Credentials, welche nicht auf ALLE, sondern nur auf einzelne Object-Storage-Container Schreibrechte haben. Erst vor kurzem haben sie eingeführt, dass man auch API-User anlegen kann, die weniger als Admin-Rechte haben, wow.“

In ihrem jüngst veröffentlichten Buch „Neues Wagen. Deutschlands digitale Zukunft.“ äußert sich das Autorenteam von Accenture (Frank Riemensperger, Prof. Dr. Svenja Falk) ebenfalls skeptisch: Sie begründen das mit einer noch unausgereiften technischen Konzeption, dem komplexen Abstimmungsprozesse und mangelnder Finanzierung. Den Finanzierungsbedarf für eine Europäische Cloud beziffern die Autoren auf ca. 100 Milliarden US-Dollar (S. 198). Kurz: “Ein Taktwechsel scheint erforderlich, wenn diese europäische Initiative Aussicht auf Erfolg haben soll.“ (S. 197)

Fazit

Ein erfolgreiches, europäisches Cloud-Projekt ist wünschenswert. Darüber sind sich alle einig. Besonders lautstark fordert dies etwa der Burda-CEO Paul-Bernhard Kallen. Seine Analyse des Status Quo ist nüchtern: “Amerika tut gerade sehr viel dafür, dass Europa eine digitale Kolonie bleibt.“ Und ebenso nüchtern bewertet er auch die europäischen Initiativen: “Es geht alles in die richtige Richtung, aber die Maßnahmenpakete sind relativ klein, kein großer Wurf.“ Und schließlich sein Appell: “[Wir] brauchen einen echten Kraftakt. Wir müssen eine eigene digitale Infrastruktur aufbauen.“

Man kann Europa zugute halten, dass die Europäer mit dem DSGVO den weltweiten de-facto Standard beim Datenschutz geschaffen haben – wenn auch zu einem Preis, der in manchen Teilen unternehmerische Dynamik ausbremst, das sollte man nicht unterschlagen. Das gelang Europa nicht zuletzt deshalb, weil es weltweit ein gigantischer Markt ist, den weder die USA noch China ignorieren können; und eben diese Marktmacht ließe sich nutzen. Auch der Vorsprung der US-amerikanischen und chinesischen Player im Cloud-Computing Markt kann kein Argument sein, die Aufholjagd von Anfang an abzublasen. Microsoft ist es mit einer äußerst beeindruckenden Kraftanstrengung gelungen, ab 2014 bis heute den damals gigantischen Vorsprung des damaligen wie heutigen Marktführers AWS (fast) einzuholen. Oder betrachten wir China, die in zahlreichen Industrien aufgeschlossen sind zum Westen.

Aber dafür braucht es Konsequenz. Strategische Konsequenz, die den Europäern leider häufig fehlt. Hier braucht es eine starke, über Parteigrenzen hinweg zeitstabile industriepolitische Vision. Was Gaia-X angeht: Es hat Start-Up Charakter. Wer wirklich für Europa Erfolg haben will, der sollte nicht auf einen einzelnen Start-Up setzen – sondern auch andere Optionen prüfen, um Europa im Bereich Cloud-Computing aus der Regionalliga in die Championsleague aufsteigen zu lassen.

Nachtrag 02.05.2021

Der Public Cloud Anbieter Google Cloud ist die #3 hinter AWS und Azure … und von der hohen Profitabilität der beiden Mitbewerber im Cloud-Geschäft weit entfernt. Für das Geschäftsjahr 2020 stehen 13,1 Mrd. US-Dollar Umsatz einem Verlust von 5,6 Mrd. US-Dollar gegenüber. Wie kommt das?

“Google versuche, mit schnellem Wachstum auf eine kritische Größe zu kommen und investiere stark. Ein vergleichsweise kleiner Cloud-Anbieter wie Google muss beim Aufbau von Rechenzentren und Vertriebsteams ähnlich hohe Kosten schultern wie AWS oder Microsofts Azure, kann sie aber auf viel weniger Kunden umlegen.“ – so das Fazit in einem jüngst erschienenen Artikel im Handelsblatt (Das Google-Paradox: Der erfolgreiche Techriese verbrennt mit seiner Cloud Milliarden)

Im Umkehrschluss heißt dies: Es ist realistisch, Investitionskosten und Anlaufverluste in ähnlicher Größenordnung für ein Cloud-Angebot wie Gaia-X anzunehmen. Der Investitionsbedarf von rund 100 Mrd. (vgl. die Autoren Frank Riemensberger und Prof. Svenja Falk) lassen sich so sehr einfach plausibilisieren.

Zum Weiterlesen

  • Die Zukunft des Cloud-Computing: Interview mit Julian Hansert, Co-Founder von Kubermatic
  • Cloud aus Deutschland: Interview mit Luc Mader, Start-Up-Gründer von luckycloud
  • Digitalisierung: 7 spannende Start-Ups im Bereich Cloud Computing
  • Author

    Der Autor ist Manager in der Softwareindustrie mit internationaler Expertise: Prokurist bei einem der großen Beratungshäuser - Verantwortung für den Aufbau eines IT Entwicklungszentrums am Offshore-Standort Bangalore - Director M&A bei einem Softwarehaus in Berlin.